Kapitel 47

Zwei Stunden später bin ich komplett fertig – allerdings auch mit den Nerven.
„Marcus rief eben an, Nicky. Er wird pünktlich um halb 11 Uhr hier sein.“
Innerlich bete ich, dass er wenigstens bei meiner Hochzeit wirklich auf die Minute genau vor der Tür steht, denn ohne die Braut kann die Trauung nicht beginnen und ich will Christopher auf keinen Fall warten lassen. Aber schlau wie ich wahr, habe ich ihn 15 Minuten früher bestellt. Es würde eigentlich reichen, wenn wir um viertel vor 11 Uhr losfahren würden. Sicher ist sicher, denke ich und muss grinsen. Auf dem Weg nach unten folgen mir Claudia und Nina, die meine Schleppe tragen. Valerie und Emily machen sich bereits mit Sarah und Jayden auf den Weg zum Casa Loma Castle, während wir Nerissa verabschieden und uns dann auf den Barhockern am Küchentresen niederlassen.
„Hast Du eigentlich heute schon irgendwas gegessen?“ fragt mich plötzlich Nina.
„Ähm, nein! Dazu war ich viel zu aufgeregt. Außerdem…“ Ich schaue an mir herunter. „Wer weiß, ob ich dann noch in das Kleid gepasst hätte!“
Wir drei müssen lachen. „Du musst aber was essen, sonst kippst Du noch, bevor Du ‚Ja’ gesagt hast, um!“
Lässig winke ich ab. „Ach, ich hab doch Christopher neben mir, der wird mich schon auffangen.“
Aber nun kommt die Mutter in Nina durch. „Nee, jetzt mal im Ernst, Nicky! Du musst schon irgendwas essen. Und wenn’s nur ein Joghurt oder ein Keks ist. Damit Du überhaupt was im Magen hast.“
„Ist ja schon gut, Mama“, erwidere ich.
Ich entscheide mich für einen Keks, da ich Angst habe, mit dem Joghurt einen Fleck auf’s Kleid zu machen.

Als es halb 11 Uhr ist, werde ich so richtig nervös und rutsche auf meinem Stuhl hin und her.
„Irgendwann bring ich meinen Mann um!“ sagt Nina sichtlich aufgebracht. „Er hat versprochen, dass er diesmal pünktlich ist.“
Ich lege meine Hand auf ihre Schulter. „Ganz ruhig, Nina! Er wird pünktlich sein, denn ich habe ihn 15 Minuten eher bestellt, weil ich ihn einfach zu gut kenne.“
Nina schaut mich mit großen Augen an und beginnt dann zu lachen. „Das gibt’s doch nicht! Du hast echt an alles gedacht! Kein Wunder, dass Du noch so ruhig bist – also was Mac anbelangt!“

Ich lag völlig richtig: Marcus hat das bekannte akademische Viertel vollends ausgenutzt und steht pünktlich viertel vor 11 Uhr vor der Tür.
„Es tut mir leid, Nicky, aber ich stand im Stau!“
Sein Blick geht zu Nina, die ihn böse anschaut.
„Echt, Nina, ich kann nichts dafür! Ich hab zwei kirschgrüne Ampeln mitgenommen. Gott sei Dank weiß ich mittlerweile, wo fest Blitzer sind.“
Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen und er schaut mich irritiert an.
„Was ist so witzig, Nicky?“
„Sorry, Mac, aber ich hab Dich zu früh bestellt, weil ich irgendwie wusste, dass Du es nicht pünktlich schaffen würdest. Wir liegen jetzt perfekt in der Zeit.“
Seine Kinnlade klappt nach unten. „Is nich wahr?!“ Mehr bekommt er nicht raus.

Dann erst sehe ich, wie seine Augen über mein komplettes Outfit wandern. Ganz langsam begutachtet er mich und ich bin gespannt, was er sagt.
„Ähm, Nicky?“
Ich lege den Kopf leicht zur Seite. „Ja?“
„Du siehst bezaubernd aus! Dieses Kleid ist einfach nur… wow! Und die Frisur mit den leichten Locken… Ich bin echt gespannt, was Christopher sagen wird.“
„Danke für das Kompliment, Mac!“
Er tritt näher zu mir. „Ähm, darf ich meine beste Freundin auf die Wange küssen oder ruiniere ich dann das Make-Up?“
Ich hadere im Scherz etwas. „Naja, es war schon ne Heidenarbeit, meine Falten zu verbergen, aber wenn Du ganz vorsichtig bist, darfst Du mir ‘nen Kuss geben!“
Es tut gut, ihn im Arm zu halten – er gibt mir dadurch die Kraft, die ich brauche.
„Also dann, Mädels. Ab ins Auto!“

Wir brauchen etwa 35 Minuten und je näher wir dem Casa Loma Castle kommen, desto ruhiger werde ich und desto feuchter werden meine Hände. Marcus kann wieder mal in mir lesen wie in einem offenen Buch.
„Ganz ruhig, Schatz! Wir sind alle bei Dir und eigentlich hast Du doch schon zu ihm ‚Ja’ gesagt.“
Ich muss meinen Kloß im Hals nach unten schlucken, um nicht Gefahr zu laufen, vor Aufregung loszuweinen.
„Ich weiß, aber Du hast das doch auch schon mal durchgemacht. Irgendwie ist es was ganz anderes.“
Als wir vor der Tür des Castles halten, nimmt er meine Hand und drückt sie ganz fest.
„Ready?“
Ich hole zweimal tief Luft, nicke erst ihm und dann Claudia und Nina zu, die dann aussteigen und mir mit dem Kleid helfen.
„Ok, wir sehen uns dann drinnen!“ sagen die beiden fast zeitgleich, und sind im Nu im eigentlichen Saal verschwunden, wo die Hochzeitsgesellschaft, der Pfarrer und Christopher auf mich warten.
Da ich meinen Vater nie kennen gelernt und mein Opa leider auch nicht mehr da ist, hatte ich Marcus gefragt, ob er mich Christopher übergibt, welches Angebot er liebend gern angenommen hat.

Nun stehen wir beide ganz allein – abgesehen von einem Herren des Hauses – vor der riesigen zweiflügeligen Holztür. Marcus beobachtet mich, während ich immer wieder tief ein- und ausatme.
„Das wird schon, ganz ruhig!“
„Marcus, ich bin Dir so dankbar, dass Du das hier machst. Allein hätte ich da irgendwie nie reingehen können.“
„Dafür sind Freunde doch da und ich gebe Dich nur mit dem allergrößten Vergnügen an Christopher. Ich sehe, wie glücklich er Dich in den letzten zwei Jahren gemacht hat!“
Er nickt dem Herren an der Tür zu, der dann vorsichtig und sehr bedacht die beiden Flügel aufmacht, als im Inneren die Musik beginnt.

Ich kann Christopher sehen, der mit dem Rücken zu mir steht. Jacob steht an seiner Seite und blickt zu mir. Er lächelt mir zu und flüstert dann etwas zu seinem großen Bruder. Auf der anderen Seite stehen Nina und Claudia, beide in einfachen Cocktailkleidern aufeinander abgestimmt, aber nicht einheitlich. Emily, meine und Christopher’s Mutter kümmern sich um Sarah, Jayden, Mathilda und Josephine, während alle anderen Augenpaare auf Marcus und mich gerichtet sind. Wir sind die Hälfte des Weges bereits gegangen, als sich Christopher langsam umdreht. Ich kann sehen, wie sich seine Augen immer mehr weiten und er tief Luft holt. Dann bildet sich ein Lächeln auf seinem Gesicht und sein Blick wird glänzend – Tränen. Ich muss mich selbst zusammenreißen, um nicht auch loszuweinen.

Als Marcus und ich bei ihm und dem Pfarrer angekommen sind, gibt er mir noch einen Kuss auf die Stirn und legt dann meine Hand in Christopher’s. Dieser schaut mich mit riesigen Augen an und flüstert dann ganz leise.
„Schatz, Du siehst umwerfend aus! Eine Prinzessin ist nichts gegen Dich!“
Ich strahle und bedanke mich dafür mit einem festen Händedruck. Der Pfarrer beginnt mit seiner Zeremonie und als Sarah das Kissen mit unseren Ringen bringt, zittern wir beide wieder bis ins Unermessliche. Bei dem wichtigsten Satz lässt sich Christopher diesmal Zeit. Er nimmt meinen Kopf in seine beiden Hände, schaut mich eindringlich an und sagt.
„Ich liebe Dich über alles, Nicky Lawson, und ich hoffe, dass ich diesmal die Frau geheiratet habe, mit der ich auch alt werden darf.“
Bevor ich überhaupt etwas antworten kann, küsst er mich und ich spüre, wie er mich am Rücken festhält und mich langsam nach hinten lehnt – wie in einem typischen Hollywood-Streifen, geht es mir für eine Sekunde durch den Kopf, doch schon konzentriere ich mich wieder auf das Hier und Jetzt. Er holt mich langsam wieder in die Waagerechte und ich lächele ihn an.

Wir drehen uns um und laufen langsam nach draußen, während Sarah und Mathilda vor uns die Blumen auf den Weg streuen. Eine Idee von Jacob, die ich mehr als entzückend fand. Die Hochzeitsgesellschaft folgt uns nach draußen, wo bereits einige Nachbarn und Freunde auf uns warten, die nicht zur Trauung, allerdings zur Feier danach geladen sind. Der Reisregen folgt wie auf Bestellung und ehe ich mich versehe, hebt mich Christopher auf den Arm und trägt mich die Stufen nach unten. Ich bin völlig baff und grinse wie ein Honigkuchenpferd. Dann meldet sich der Fotograf zu Wort.
„So, jetzt bitte mal alle schön aufstellen. Das Hochzeitspaar in die Mitte ganz nach vorn, die Trauzeugen links und rechts, dahinter bitte die Familien und dann die Freunde.“
Es dauert ewig, bis ihm die Aufstellung gefällt, aber letztendlich ist er dann doch zufrieden und knipst drauflos. Erst die komplette Hochzeitsgesellschaft, dann nur mit den Gästen, die zur Trauung geladen waren, dann nur mit den Familien, nur mit den Trauzeugen und so weiter. Die Hausherrin lässt es sich nicht nehmen, uns als erstes zu gratulieren und fragt uns dann, wie wir weiter verfahren wollen. Christopher und ich schauen uns kurz an.
„Alles wie geplant“, antwortet er. „Die Gäste mögen jetzt auf die Terrasse und den großen Saal gehen, wo sie ein paar Hors d’Œuvre bekommen, während wir mit dem Fotografen die weiteren Bilder machen.“
„Alles klar. Hier ist noch etwas als Stärkung.“
Sie reicht uns ein Tablett mit drei Gläsern Sekt entgegen, welche wir und der Fotograf dankbar annehmen.
„Wollen wir?“ werden wir dann gefragt und während die Gäste bereits wieder im Castle verschwunden sind, gehen wir in den Park und später noch in einen alten Rittersaal, der extra für unsere Fotos etwas hergerichtet wurde.

Der Fotograf zeigt uns jeden einzelnen Schnappschuss auf der Kamera und wir sind sehr zufrieden mit der Arbeit. Nach gefühlten 1.000 Fotos gehen wir zurück auf die Terrasse, wo die ersten Gäste bereits auf der extra angelegten Tanzfläche im Garten die Hüften schwingen. Jacob hatte als kleine Überraschung für uns eine lokale Band gemietet, die er gut kennt und die auch regional sehr erfolgreich sind. Sie spielen Modernes, Songs aus unserer Jugend sowie aus der Jugend unserer Eltern und die Party ist auch schon ohne uns in vollem Gange. Christopher geht kurz zur Band, die aufhört zu spielen.
„Ladies und Gentlemen, wir würden jetzt gern mit dem Essen beginnen. Die Kalorien dürft Ihr bald wieder abtrainieren… ich meine natürlich wegtanzen.“
Die Gesellschaft lacht und ich habe das gute Gefühl, dass es ein sehr schöner Tag wird.

Nach der Vorspeise steht plötzlich Jacob auf und lässt sein Messer vorsichtig ein paar Mal an sein Glas klirren. Es wird ruhig und alle Augen sind auf ihn gerichtet. Nach einem kurzen Räusperer beginnt er zu sprechen.
„Nicky, Christopher, und liebe… tja, was sag ich jetzt eigentlich? Ach, egal! Ursprünglich hatte ich geplant, eine komplette Rede aufzuschreiben und dann auswendig zu lernen, aber irgendwie wollte mir nichts einfallen. Nicht, dass ich nichts zu sagen hätte, aber ich dachte mir letztendlich: ‚Sag das, was Dir in diesem Moment durch den Kopf geht!’ Und das tue ich. Also sag ich schon jetzt sorry, falls ich ins Stottern komme oder zu lange Pausen mache.“
Die Gäste lachen und ich kann sehen, dass Jacob erleichtert ist.
„Nicky, wir hatten am Anfang ein paar Probleme miteinander, aber schnell habe ich gesehen, wie glücklich Du Christopher machst. Seit Jahren hat er nicht mehr so gestrahlt wie in den Momenten, wenn er von Dir gesprochen hat. Ich musste ihn erst davon überzeugen, dass Du die richtige bist, denn sonst würden wir jetzt nicht hier sein, weil er es noch immer nicht wahrhaben würde. Ich bin so froh, dass Du wieder Glück, Liebe, Freude… und eine Ehefrau und Mutter in Christopher’s Leben gebracht hast.“
Seine blauen Augen schauen mich durchdringend an und ich spüre einen Kloß in meinem Hals wachsen. Jacob lässt meinen Blick nicht los und meine Augen füllen sich mit Tränen, die ich versuche zu unterdrücken.
„Und jetzt zu Dir, mein großer Bruder! Was soll ich sagen? Ohne Dich bin ich nicht vollkommen, aber ohne eine Frau an Deiner Seite, die Dich so liebt, wie Du bist, bist Du nicht vollkommen. Also haben wir beide mit Nicky einen Gewinn gemacht! Ich liebe Dich, Bro!“

Christopher und ich stehen gleichzeitig auf und ich umarme Jacob herzlich.
„Jacob, ich… also… mir… mir fehlen die Worte!“ stammele ich, während er mit seinem Handrücken vorsichtig die Tränen auf meinen Wangen wegwischt.
„Die Umarmung sagt genug, Nicky! Und jetzt hör auf zu weinen, sonst zerstörst Du Dein Make-Up!“ Ich lasse ihn los und Christopher tritt vor ihn. Die beiden stehen sich für einen kurzen Moment gegenüber, ohne ein Wort zu sagen und ich denke, dass das die Beziehung zwischen Brüdern ist. Man muss nichts sagen – Blicke reichen auch. Doch dann passiert etwas, mit dem ich überhaupt nicht gerechnet hatte. Christopher fällt seinem kleinen Bruder regelrecht in die Arme und als er sich wieder zu mir umdreht, sehe ich seine Augen glänzen. Und nicht nur seine, sondern auch die von Jacob sind wässrig. Ich muss mich zusammenreißen. Danach gibt es noch eine Rede von Nina, die mich ebenfalls sehr rührt und ich habe das Gefühl, heute nur noch zu weinen.

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