Kapitel 2

Im Krankenhaus wird mein Verdacht bestätigt: die Schulter ist nur verrenkt und die Schmerzen sind dank Antibiotika in ein paar Tagen auch verschwunden.
„Wir sollten nach Hause gehen, damit Du Dich schonen kannst!“ schlägt Nina vor, doch ich schüttele energisch den Kopf.
„Nein, kommt nicht in Frage. Wir hatten uns alle auf den Tag in der Stadt gefreut, also gehen wir auch.“
Marcus schaut mich an. Er kennt meinen Dickkopf, also nickt er. „Aber Du musst versprechen, dass Du sofort etwas sagst, wenn die Schmerzen wieder schlimmer werden!“ Eine halbe Stunde später sitzen wir in einem Café.
„Der Urlaub fängt ja toll an!“ sage ich eher zu mir selbst.
Ich bekomme einen Kloß im Hals, meine Augen füllen sich mit Tränen – die Vergangenheit holt mich ein.
Marcus nimmt mich in den Arm. „Schon okay, Nicky. Denk nicht an das, was war. Du bist hier bei uns und hast alles Schlechte hinter Dir gelassen. Tief durchatmen und nach vorn schauen!“
Nina schaut mich lächelnd an – Frauen brauchen keine Worte. „Sag mal, was stand nochmal auf der Visitenkarte von Deinem Rowdy? Immobilienmakler, oder?“
„Mein Rowdy?“ frage ich lachend zurück. „Ja, Immobilienmakler aus…“ Ich krame die Karte hervor. „…aus Mississauga. Wo ist das eigentlich? Oder ist das der Firmenname?“
„Nein, das ist ein Vorort von Toronto. Westlich. Ein schönes Fleckchen. Ich habe manchmal dort zu tun.“ erwidert Marcus.
„Wäre das nicht auch eine Option für uns, Schatz?“ sieht Nina ihn an.
Mein Blick wandert irritiert zwischen den beiden hin und her. „Option für was?“
„Naja, wir werden bald ein größeres Haus brauchen und zur Zeit überlegen wir, welche Gegenden für uns in Frage kommen.“
Ich verstehe sofort. „Oh mein Gott, das sind ja wundervolle Neuigkeiten! Ich freue mich so für Euch!“
Marcus und Nina sehen sich in die Augen. Es versetzt mir einen Stich – so haben Tom und ich uns früher auch angeschaut. Tom, nein, verschwinde aus meinen Gedanken! Du bist…
„Nicky, hörst Du mir überhaupt zu?“ stupst mich Nina von der Seite an.
„Sorry, was hast Du gesagt?“
„Mr. Lawson wollte sich doch noch bei Dir mit einem Kaffee entschuldigen. Ruf ihn an und bei der Gelegenheit kannst Du ihm sagen, dass wir uns gern mal mit ihm zusammensetzen würden.“
„Ich kann doch keinen verheirateten Mann anrufen und mich mit ihm in einem Café treffen!“ platzt es aus mir heraus.
„Das soll doch kein Date werden“, erwidert Nina. „Du bist unsere… nennen wir es ‚Vertretung’.“

Zwei Tage später rufe ich den Immobilienmakler an. Komischerweise war er immer mal wieder in meinem Kopf aufgetaucht. Seine Augen hatten mich sofort fasziniert.
„Lawson Immobilien?“ bringt mich eine weibliche Stimme zurück.
„Ähm, ich hätte gern Mr. Lawson gesprochen.“
„Welchen Lawson?“
Ich bin leicht irritiert und schaue nochmal auf die Visitenkarte. „Christopher, Christopher Lawson.“
„Tut mir leid, Miss“, antwortet die Dame. „Er ist im Moment auf einem Außentermin. Vielleicht kann Ihnen sein Bruder helfen.“
„Nein, so dringend ist es nicht. Könnten Sie ihm eine Nachricht zukommen lassen?“
Ich will meinen Namen sagen, doch dann fällt mir ein, dass wir uns auf dem Fluss nicht vorgestellt hatten. „Sagen Sie ihm bitte, dass die Schulter okay ist und dass ich sein Angebot gerne annehmen würde, da meine Freunde ein neues Haus suchen.“
„Und Ihr Name, Miss?“
„Ach, das genügt schon. Er kann mich unter dieser Nummer erreichen.“
Ich höre Papier rascheln. „Mache ich sehr gerne, Miss. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.“ und schon hat sie aufgelegt.
Als ich mich umdrehe, steht Marcus in der Tür und ich bekomme fast einen Herzinfarkt. „Scheiße, hast du mich eben erschreckt!“
Er grinst und drückt mir ein paar Prospekte in die Hand. „Damit Du Deine Rolle auch gut spielen kannst.“
Ich schaue ihn irritiert an. „Rolle? Aber Ihr sucht doch wirklich ein Haus, oder nicht?“
„Klar, aber das soll doch ein Date werden und keine Vermittlung für uns.“
Ich breche in schallendes Gelächter aus. „Date? Du hast sie doch nicht alle! Er ist verheiratet, hat ein Kind. Ich werd mich sicherlich nicht auf das Niveau von Jacky herablassen!“
Bei diesem Namen wird mir übel, aber ich ignoriere es.
„Nicky, wie lang kenne wir uns jetzt? 30 Jahre, richtig. Und ich weiß, wann Dir ein Mann gefällt. Deine Augen leuchten dann wie zwei Sterne. Und, da ich auch ein Mann bin, kann ich ganz gut die Körpersprache von anderen Männern deuten. Christopher hat Dir mit Sicherheit nicht umsonst seine Karte gegeben. Er müsste schon Magier sein, wenn er in diesem Moment gewusst hätte, dass wir ein Haus suchen.“
Die Vorstellung gefällt mir, aber im gleichen Atemzug verdränge ich sie wieder. Nein, ich werde nicht so werden wie sie. Ich werde niemanden jemals so verletzten, wie man es mir angetan hat.

Am Abend klingelt das Telefon.
„Nicky, für Dich!“ lächelt mich Marcus verschmitzt an und hält mir den Hörer hin.
„Hallo?“ sage ich mit zittriger Stimme. Nicky, reiß Dich zusammen. Ich räuspere mich „Hallo?“
„Hi, hier ist Christopher Lawson.“
Seine warme dunkle Stimme lässt mich leicht erschauern.
„Ich hab mich gefreut, dass Sie zurückgerufen haben und ich bin sehr froh, dass es Ihrer Schulter gut geht. Glauben Sie mir, ich hab mich deswegen echt mies gefühlt.“
„Ist schon okay. Wie ich am Sonntag bereits sagte: alles halb so wild.“
„Also, sie erwähnten gegenüber meiner Sekretärin, dass Ihre Freunde ein Haus suchen? Ich biete nicht nur Häuser in Mississauga an, falls das vielleicht auch noch ein weiteres Kriterium sein könnte. Ich würde mich freuen, mich mit ihren Freunden einmal zu treffen, um ihnen ein paar Objekte zu zeigen. Und natürlich würde ich Sie auch gerne wieder sehen. Ich habe ja noch etwas gut zu machen.“
„Wir könnten uns doch alle zusammen treffen. Dann können Sie alles in einem Aufwasch erledigen.“ versuche ich, seine Absichten zu durchschauen.
„Das wäre etwas umständlich – für alle Seiten. Wir beide sollten uns wirklich in einem Café auf einen Kaffee treffen. Ihre Freunde würde ich gern in mein Büro bitten, wo ich alle nötigen Unterlagen habe. Hätten Sie vielleicht am Samstag Nachmittag Zeit für einen Entschuldigungs-Kaffee?“
Ich muss lachen. „Ich denke, das lässt sich einrichten.“
„Super. Kennen Sie das „Dufflet Pastries“ auf der Yonge Street?“
Ich verneine, aber gebe ihm zu verstehen, dass ich dank eines Stadtplan mit Sicherheit dahin finden werde.
„Dann sehen wir uns am Samstag um 3 Uhr dort? Ich freu mich! Wären Sie so lieb und geben mir nochmal Ihren Bekannten. Ich werde mich gleich mal erkundigen, wann die beiden bei mir vorbeischauen können.“

Während Marcus mit Christopher einen Beratungstermin ausmacht, nimmt mich Nina zur Seite.
„Du triffst Dich also mit ihm?“
„Nina, Du und Mac macht eine viel zu große Sache daraus. Das wird kein Date und auch sonst ist das ein rein freundschaftliches Treffen. Er wird sich entschuldigen und damit ist die Sache für mich erledigt. Er ist verheiratet und hat ein Kind. Du weißt, welche Prinzipien ich in dieser Hinsicht habe.“
„Jetzt entspann Dich doch mal etwas, Nicky! Ich weiß, dass Du auf dieses Thema nicht gut zu sprechen bist, aber ein Date muss doch nicht gleich Sex bedeuten. Vielleicht will er Dich auch einfach nur kennen lernen. Auf einer rein freundschaftlichen Basis. So was soll es auch geben.“
Ich nicke, denn ich weiß, dass sie recht hat. Schließlich habe ich genau so eine Beziehung mit Marcus.

Schon am nächsten Tag sind die beiden bei Christopher in der Agentur. Ich kümmere mich derweil um Mathilda und wir zwei haben einen tollen Tag zusammen. Am Abend kommen Nina und Marcus völlig begeistert zurück.
„Christopher ist fantastisch!“ sprudelt es aus Nina hervor. „Wir hatten gerade mal zwei oder drei Dinge angesprochen, die uns wichtig sind und er zieht Objekte hervor, die unsere absoluten Traumhäuser sind. Ich kann es kaum erwarten, bis wir sie in natura sehen. Nächste Woche haben wir schon den ersten Besichtigungstermin. Gott, ich bin ja jetzt schon total aufgeregt.“
Marcus setzt sich zu mir auf die Couch. „So blöd es auch klingt, aber ich bin froh, dass er Dir fast die Schulter ausgekugelt hat.“ Ich kneife ihn in die Seite und muss lachen.

Samstag morgen und ich fühl mich wie ein kleines Kind. Das ist kein Date, das ist kein Date, rede ich auf mich ein. Das Mittagessen lasse ich komplett ausfallen und gehe dafür eine Runde spazieren, um mich abzulenken. Was mache ich hier? Ich kann mich doch nicht mit einem verheirateten Mann in einem Café treffen, Herrgott nochmal! Wenn uns jemand von seinen Freunden oder Kollegen sieht? Sollte ich vielleicht absagen? Ja, ich werde ihn anrufen, sobald ich wieder zu Hause bin und ihm absagen. Eine Ausrede wird mir schon einfallen. Gesagt, getan. Ich stürme regelrecht auf das Telefon zu, während ich die Tür ins Schloss fallen lasse. Ich werde das auf keinen Fall zulassen.

„Fuck, er geht nicht ran!“ Was hatte ich auch erwartet. Ich hatte lediglich seine Büronummer und heute war Samstag.
„Hey, wen rufst Du an? Du machst jetzt aber nicht etwa einen Rückzieher, oder?“ schaut mich Nina fragend an. Ich druckse herum.
„Nicky! Jetzt führ Dich nicht auf wie ein Teenager vor seinem ersten Date. Es ist nur ein Treffen. Wir haben Dich lediglich etwas aufgezogen. Also los, mach Dich fertig. Marcus bringt Dich in die City.“

Es ist kurz vor 3 Uhr und ich irre noch immer auf der Yonge Street auf und ab. Wo ist dieser beschissene Laden? Zum zweiten Mal laufe ich jetzt die Straße entlang, diesmal auf der anderen Seite. Ich hätte wohl doch im Internet nach der genauen Hausnummer schauen sollen, aber viel hätte das jetzt auch nicht genutzt, stelle ich im gleichen Moment fest. Hier hält man es anscheinend eh nicht für nötig, solche anzubringen. Ich schaue wieder auf die Uhr. Scheiße, schon 10 nach 3. Das gibt’s doch einfach nicht! Nicky, konzentrier Dich! Und da, endlich, sehe ich das kleine Café. Kein Wunder, dass ich es fast komplett ignoriert hatte – zwischen zwei riesigen Klamottenläden hätte es wohl jeder beim ersten Mal übersehen. Ich renne über die Straße, richte im benachbarten Schaufenster nochmal mein Outfit und gehe dann hinein. Da sitzt er und mein Herz beginnt zu rasen.

Er sieht mich, steht auf und kommt einen Schritt auf mich zu. „Schön, Sie zu sehen, Miss… Jetzt kennen wir uns schon mehr oder weniger eine Woche und ich kenne noch nicht mal Ihren vollen Namen.“ lächelt er mich an.
„Nicky Fischer“ erwidere ich und reiche ihm meine Hand, die er mit Begeisterung entgegennimmt. Meine Hände waren nie klein, aber verglichen mit seinen kommt es mir vor, als hätten meine die Größe von Babyhändchen.
„Ich dachte schon, Sie wollten mich versetzen.“
„Wie kommen Sie denn darauf? Sie hatten ja noch etwas gut zu machen, weshalb sollte ich da absagen?“ Lügnerin, geht es mir durch den Kopf. Christopher bittet mich Platz zu nehmen und er bestellt mir einen Cappuccino.
„Ihre Schulter ist also wieder ganz und gar in Ordnung, ja?“ schaut er mich mit großen Augen an und seine Hand landet auf meinem Unterarm.
„Machen Sie sich keine Sorgen. Alles in bester Ordnung.“ entgegne ich und ziehe mich zurück.
„Sarah ist einfach ein Wirbelwind und wenn sie auf dem Eis ist, ist sie nicht mehr zu bremsen. Und leider ist ihr Daddy nicht mehr ganz so flink auf den Kufen, wie er es früher einmal war.“ Wir lachen.
„Sie hatte ja echt ein ganz schönes Tempo drauf. Sie wollte wohl jemanden einholen.“
„Ganz im Gegenteil – sie wollte vor jemandem davon laufen. Vor mir und leider schafft sie das immer wieder.“
„Ist nur ihr Daddy so tollpatschig oder kann sie auch vor ihrer Mommy so einfach davon flitzen?“ versuche ich, ihm etwas zu entlocken, doch im nächsten Moment ohrfeige ich mich in Gedanken dafür. Christopher’s Blick driftet ab – er schaut ins Leere.
„Sarah hat ihre Mutter nie kennen gelernt. Sie…“
„Schon gut, Mr. Lawson. Es tut mir leid. Ich hätte nicht so indiskret sein dürfen.“ Für eine Weile ist Stille.

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