Kapitel 9

Überraschenderweise beginnt Jacob ein sehr unverfängliches Gespräch. Er fragt mich über meine Vergangenheit aus, wobei ich meine Scheidung komplett außen vor lasse, will Dinge über meine Kindheit und das Leben in Deutschland erfahren und meine Nervosität legt sich. Vielleicht war er doch nur rein zufällig hier in der Gegend und wollte mich einfach mal näher kennen lernen. Was er von Christopher über mich erfahren hat, weiß ich ja nicht. Nach einer Weile merke ich, wie sich meine schon seit ein paar Tagen immer wieder auftretenden Nackenschmerzen bemerkbar machen. Ohne, dass ich es merke, mache ich meine Verrenkungen, um meine Nerven etwas zu lockern, als mich Jacob darauf anspricht.
„Hast Du Probleme mit dem Nacken?“
„Ja, irgendwie schon. Vielleicht bin ich in den Zug gekommen oder habe falsch gelegen. Seit ein paar Tagen hab ich immer wieder leichte Schmerzen.“
Er stellt sein Glas ab und richtet sich vor mir auf.
„Man hat mir mal gesagt, dass ich ganz gut im Massieren bin. Wenn Du magst, kann ich ja mal versuchen, ob ich Dir etwas helfen kann.“
Ich schlucke und meine Alarmglocken läuten.
„Keine Angst, Nicky, ich beiße nicht!“ grinst er mich an. ‚…sagte der Wolf im Schafspelz’ geht es mir durch den Kopf, aber ich versuche, ihm eine Chance zu geben zu beweisen, dass er einfach nur helfen will. Ich drehe ihm meinen Rücken zu und Jacob beginnt, zuerst meine Schultern und dann meinen Nacken zu bearbeiten.
„Gott, Du bist ja total verspannt! Das hast Du nicht erst seit ein paar Tagen, oder?“
„Nein, ich hatte das immer mal wieder, aber hab mir nichts dabei gedacht. Wenn man den ganzen Tag am Schreibtisch sitzt, schiebt man es einfach darauf.“
Allmählich merke ich, wie sich mein ganzer Körper entspannt. Er hatte recht – massieren kann er wie ein Profi. Meine Augenlider werden schwer, langsam drifte ich davon. Ich spüre kaum, wie er mich langsam zu sich zieht.

Doch plötzlich spüre ich, wie sich seine Hände den Weg zu meinem Hals und meinem Dekolté weiterarbeiten. Ich bin hellwach, setzte mich ruckartig auf und drehe mich zu ihm. 

„Was soll das?“ gifte ich ihn an.
„Ach komm schon, Nicky! Jetzt hab Dich nicht so. Du willst es doch auch?“

Ich springe auf. „Was will ich?“
„Ich hab doch gesehen, wie Du mich angesehen hast. Lass uns heute Nacht etwas Spaß haben.“
Er steht ebenfalls auf und kommt auf mich zu, aber ich weiche ihm aus.
„Du hast sie ja wohl nicht alle! Ich mit Dir Spaß haben? Was bildest Du Dir ein?“
Ich drehe mich um und will in die Küche, doch mit einem Satz hat er mich eingeholt, dreht mich zu sich und presst mich mit voller Kraft an die Wand. Meine Hände hält er mit festem Griff und sein Gesicht ist nur wenige Zentimeter von meinem entfernt. Die Augen, die mich am Anfang fasziniert haben, machen mir jetzt Angst. In meinem Kopf geht es gerade drunter und drüber. Was will er, was hat er vor, er wird doch nicht, wenn ich nicht von mir aus… Mein Puls schießt in die Höhe, ich habe Muffensausen vom Feinsten. Ich versuche, mit aus seinem Griff zu befreien, winde mich hin und her, aber er ist stärker und lässt mich dies auch spüren.
„Nicky, Du wirst es nicht bereuen. Ich zeig Dir Dinge, davon hast Du noch nicht mal zu träumen gewagt.“
„Nein, Jacob, lass mich bitte los. Ich will von Dir nichts gezeigt bekommen!“
Seine Hände führen meine näher an meinen Kopf, so dass er gleichzeitig auch meinen Kopf festhalten kann. Er kommt näher, immer näher. Mittlerweile spüre ich seinen Atem. In Gedanken rufe ich Christopher’s Namen. ‚Bitte hilf mir!’ aber er kann mir jetzt nicht helfen. Und dann küsst mich Jacob. Innerlich schreie ich, versuche, meine Lippen so fest es geht zusammen zu pressen, aber er lässt einfach nicht locker.
„Jetzt stell Dich nicht so an, Nicky! Ich will Dir nicht weh tun!“
Dieser Satz lässt meine Sicherungen durchknallen. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass ich dazu fähig bin, aber von einer Sekunde auf die andere ramme ich ihm mein Knie in seine empfindlichste Stelle. Jacob lässt mich augenblicklich los, sein Oberkörper geht nach unten und ich höre sein Röcheln.
„Du… kleines… Miststück!“ krächzt er hervor.
Ich renne förmlich zur Couch, hole seine Jacke, drücke sie ihm an den Bauch und bugsiere ihn zur Tür bedacht darauf, ihm keine erneute Angriffsfläche zu bieten.
„Ich denke, es ist besser, wenn Du jetzt gehst!“
Ich schiebe ihn hinaus auf die Veranda, noch bevor er überhaupt etwas sagen kann, schlage die Tür hinter mir zu… und dann breche ich in Tränen aus. Ich sinke nach unten und weine.

Wieso hat er das getan? Hat ihm Christopher absolut nichts erzählt von unseren Annäherungsversuchen? Wollte Jacob vielleicht einfach nur eine weitere Eroberung zu seinen zählen? Ich bin fix und fertig. Erst jetzt höre ich den Motor von Jacob’s Wagen. Er scheint eine Weile gebraucht zu haben, sich von dem Schmerz zu erholen. Ich stehe langsam auf und spüre Kopfschmerzen. Ein heißes Bad oder eine Dusche ist jetzt das, was ich brauche. Ich schalte die Lichter im Erdgeschoss aus und gehe nach oben. In meinem Zimmer fällt mir Sarah’s Geschenk in die Hände und schlagartig wird mir klar, dass ich ihm nicht aus dem Weg gehen kann. Er wird mir am Dienstag – in schon drei Tagen!!! – wieder gegenüber stehen. Ich spüre mein Herz rasen: kann ich das, will ich das?

Während ich das Wasser beobachte, wie es in die Badewanne fließt, überlege ich hin und her. Ich hatte mich so auf die Geburtstagsfeier gefreut. Auf Sarah und eine Horde Kinder, aber besonders auf Christopher. Jacob hat mit dieser Aktion eben alles kaputt gemacht. Er ist nun mal Christopher’s Bruder, Sarah’s Onkel, was für mich bedeutet, dass ich ihm immer wieder über den Weg laufen werde. Vielleicht sollte ich hier und jetzt alles beenden. Vielleicht sollte ich meine ursprünglichen Pläne realisieren und durch die Welt reisen. Vielleicht… vielleicht… vielleicht…

Die nächsten beiden Tage bleibe ich zu Hause und melde mich auch nicht bei Christopher. Ich brauche Zeit, um einen klaren Kopf zu bekommen. Am Montag Mittag meldet sich Marcus bei mir.
„Hi Nicky! Wollte nur mal hören, ob Du mit allem zurecht kommst. Wie läuft’s mit dem Autofahren?“
„Läuft alles prima, Marcus!“ erwidere ich. „Du, Mac, ich… Also… Ich weiß gar nicht, so recht, wie ich es sagen soll…“
Er merkt wieder einmal sofort, dass etwas nicht stimmt. „Schatz, was ist los? Ist etwas passiert?“
In meinem Hals bildet sich ein Kloß. „Ich werde wohl doch meine Pläne wieder aufgreifen und weiterreisen.“
„Ist etwas zwischen Dir und Christopher vorgefallen?“ Seine Stimme wird ernst – und ich spüre, dass er sich Sorgen macht.
„Nein, nicht zwischen Christopher und mir.“
„Sondern???“ Marcus lässt wie immer nicht locker? „Was heißt ‚nicht zwischen Christopher und Dir’?“
Ich hadere. Soll ich es ihm erzählen? Oder soll ich es verschweigen und einfach nur sagen, dass ich mich nicht schon wieder in eine Beziehung stürzen will nach dem Fiasko? Aber das wäre nicht ehrlich und ich war Marcus gegenüber immer ehrlich gewesen.
„Nicky, bitte sprich mit mir! Was ist passiert?“
Meine Augen füllen sich mit Tränen und ich beginne zu schluchzen.
„Bitte, sag, was los ist? Du machst mir Angst!“
„Jacob. Jacob ist der Grund!“
„Christopher’s Bruder Jacob? Was hat er denn getan?“
Mit zittriger Stimme erzähle ich ihm alles, was passiert ist. Vom ersten Annäherungsversuch im Café bis hin zu diesem Vorfall am Samstag Abend. Zum Schluss lasse ich meinem Kummer freien Lauf und weine nur noch.
„Wenn ich dieses Arschloch in die Finger bekomme! Wie kann er Dir das antun? Hast Du mit Christopher gesprochen?“
„Nein, natürlich nicht! Er ist trotz allem ja sein Bruder, Sarah’s Onkel! Ich will nicht, dass sich zwischen den beiden etwas ändert, schon wegen der Kleinen. Ich sollte mich einfach komplett aus ihrem Leben zurückziehen, damit jeder so weitermachen kann wie bisher.“
Marcus holt tief Luft. „Bist Du Dir sicher, dass Du das kannst? Auch wenn Du es Dir vielleicht immer noch nicht eingestehst, ich weiß ganz genau, dass Du viel für Christopher empfindest und ihm geht es mit Sicherheit nicht anders. Wenn Du ihn jetzt verlässt, wird ihn das definitiv ganz schön aus der Bahn werfen – und Dich auch! Ihr habt beide geliebte Menschen in der letzten Zeit verloren – aus welchem Grund auch immer. Ihr wart füreinander da und habt Euch gegenseitig wieder den Glauben an die Liebe zurückgegeben. Habe ich nicht recht?“
Natürlich hat er recht, das weiß ich, aber was soll ich denn machen?
„Ich werde auf alle Fälle morgen zur Geburtstagsfeier von Sarah gehen. Schließlich kann sie ja absolut nichts dafür und sie hat sich so auf mich gefreut. In einer ruhigen Minute werde ich mit Christopher reden. Ich hoffe nur, dass Jacob aufgrund der Kinder sich zurückhält.“
„Du hast Angst vor ihm, oder, Nicky?“
„Ich weiß nicht, ob Angst das richtige Wort ist. Nennen wir es eher Unbehagen.“
„Wie auch immer. Dein Entschluss steht jetzt schon 100%ig fest oder können wir oder vielleicht sogar Christopher etwas daran ändern?“
Ich überlege. „Ich weiß es nicht, aber ich denke, dass ich zumindest Weihnachten und auch Silvester woanders verbringen werde. Ich wäre dann auch nur eine Woche weg und rechtzeitig wieder hier, wenn Ihr zurück kommt. Ich hoffe, es ist für Euch okay, dass ich das Haus alleine lasse. Danach entscheide ich, wie’s generell weitergehen soll.“
Ich kann Marcus regelrecht vor mir sehen, wie er die Augen verdreht. „Nicky, Dein Wohlergehen ist uns das wichtigste. Wir lassen normalerweise das Haus drei Wochen allein. Natürlich kannst Du wegfahren. Mach Dir keine Sorgen. Aber tue mir bitte einen Gefallen und denk nochmal drüber nach, ok?“
„Mach ich. Und, Marcus? Danke für alles, was Ihr für mich in der letzten Zeit getan habt.“
„Für Dich immer, Schatz! Mach’s gut und trotz allem – viel Spaß auf der Geburtstagsfeier!“

Ich lege auf und versuche, meinen Kloß im Hals unter Kontrolle zu bringen. Ok, ich brauch etwas Ablenkung! Ich schnappe mir meine Jacke, schlüpfe in meine Boots und gehe nach draußen. Eigentlich habe ich kein Ziel, aber plötzlich finde ich mich auf dem Spielplatz wieder, wo ich mit Christopher und den Mädchen einen wunderschönen Nachmittag verbracht hatte. Es versetzt mir einen Stich. Marcus hatte recht: Christopher bedeutet mir viel, sehr viel sogar, aber mit Jacob im Nacken kann ich mich nicht auf ihn einlassen. Ich spüre, wie mir erneut Tränen über die Wangen laufen. Ich will ihn nicht hinter mir lassen, dazu… Ja, Nicky, dazu liebst Du ihn zu sehr. Gott, wer hat diesen Mist mit der Liebe eigentlich erfunden? Ich setzte mich auf eine Parkbank und merke kaum, wie es langsam dunkel wird. Erst, als der Wind eisig um die Ecken weht, realisiere ich, dass ich bereits vier Stunden unterwegs bin und mache mich auf den Heimweg.

Im Haus angekommen mache ich mir erst einmal einen heißen Tee und hole mein Handy, was ich im Wohnzimmer auf dem Tisch liegen gelassen hatte. Zwei SMS von Christopher:
„Hallo, Nicky, bleibt’s bei morgen gegen 2 Uhr? Wir freuen uns schon auf Dich! xxx“ und gut eine Stunde später eine weitere.
„Alles klar bei Dir? Geht’s Dir gut?“
Ich muss schmunzeln. Er macht sich Sorgen um mich.
„Alles okay bei mir. War spazieren und hab die Zeit vergessen. Morgen um 2 steht. Ich freu mich auch!“

Dienstag Morgen und mir ist regelrecht übel bei dem Gedanken, in wenigen Stunden Jacob wieder über den Weg zu laufen. Konzentrier Dich, Nicky, Christopher ist in der Nähe und Jacob wird sich sicher in seiner Gegenwart nichts anmerken lassen. Hoffe ich zumindest… Ich packe Sarah’s Geschenk ein und mache mich gegen kurz nach eins auf den Weg. Das Navi hatte ich schon gestern Abend gefragt, wie lange ich zu Christopher brauche, so dass ich ein Gefühl habe, wann ich aufbrechen sollte. Ich bin schneller als gedacht am Haus angekommen, parke das Auto an der Straßenseite und laufe die kleine Auffahrt hoch. In diesem Moment geht die Tür auf und Jacob kommt heraus. Augenblicklich verkrampft sich mein Magen und mir wird schlecht. Er hat mich noch nicht gesehen und ich überlege, mich irgendwo zu verstecken, bis er an mir vorbei ist, als direkt hinter ihm Christopher aus der Tür tritt. Ich hole tief Luft und laufe weiter.
„Hier sind die Adressen der Kids. Liegt alles auf einem Weg, Du musst also keine Umwege fahren.“ höre ich Christopher.
Ich gehe schneller, um nicht Gefahr zu laufen, zu spät an der Tür anzukommen und Jacob in die Arme zu rennen. Doch Gott sei Dank erspäht mich Christopher schon und sein Gesicht strahlt plötzlich.
„Ah, Nicky, da bist Du ja schon. Jetzt bin ich schon etwas relaxter. Na los, Jacob, sonst kommst Du nie wieder.“
Seitdem Christopher meinen Namen ausgesprochen hat, mustert mich Jacob und lässt mich nicht aus den Augen. Ich kann seinem Blick nicht standhalten vor allem, weil ich ihn nicht deuten kann. Stattdessen schaue ich zu Christopher, der mich zum lachen bringt. Erst jetzt sehe ich, dass er einen kleinen Papphut auf dem Kopf trägt und ihm schon die ersten Luftschlangen um den Hals baumeln.
„Wir sehen uns später“, haucht mir plötzlich Jacob ganz dicht neben mir ins Ohr und sämtliche Nackenhärchen stellen sich bei mir auf.
Ich ignoriere ihn und begrüße Christopher mit einer Umarmung. Bitte lass mich mit Jacob heute nicht allein, flehe ich ihn in Gedanken an.

Kommentare