Kapitel 5

„Nicky, Marcus!“ ruft es von unten. „Kommt Ihr auch mal wieder runter?“
Nina und Christopher sitzen an einem kleinen Tisch in der Küche.
„Christopher hat mir gerade die genauen Pläne und Fotos der anderen Häuser gezeigt. Er war in den letzten Tagen bei den anderen Objekten und hat Fotos vom Inneren gemacht.“ berichtet Nina. „Er will uns zumindest die Fotos noch zeigen, damit wir uns auch wirklich sicher sind mit diesem Haus.“
Christopher steht auf und bietet Marcus seinen Platz an. „Ich lass Euch dann mal allein, damit Ihr Euch in Ruhe durch alles durcharbeiten könnt. Oder möchtet Ihr die Sachen mit nach Hause nehmen? Dann könnt Ihr auch nochmal drüber schlafen.“
Marcus schüttelt den Kopf. „Danke, Christopher, aber ich glaube, meine beiden Ladies haben sich ohnehin schon entschieden. Trotzdem werden wir nochmal durch die Materialien der anderen Häuser blättern. Also nicht weggehen.“

Ich stehe daneben und weiß nicht recht weiter. Sollte ich hier bei meinen Freunden bleiben, während sie sich Häuser anschauen? Oder sollte ich vielleicht nochmal mit Christopher reden? Ich merke, wie meine Füße ebenfalls hadern – links oder rechts, Freunde oder Christopher? Doch Christopher nimmt mir die Entscheidung ab, indem er mir beim Hinauslaufen per Kopfnicken zu verstehen gibt, dass ich ihm folgen soll. Ich fühl mich wie vor einer mündlichen Prüfung – mein Herz rast und meine Hände sind völlig verschwitzt. Ich streife sie noch einmal an meiner Hose ab und gehe dann auf die Terrasse, wo Christopher bereits auf mich wartet.

„Nicky, ich…“ fängt er an, doch kommt dann ins Stocken.
Ich nehme seine Hand und drücke sie fest.
„Ich weiß, Christopher. Es ist schwer mit mir.“ Ich versuche zu lächeln, aber so richtig will es mir nicht gelingen.
„Nein, das meine ich nicht. Ich kann Dich verstehen. Als ich Dich am Sonntag geküsst habe, habe ich meinen Bauch entscheiden lassen. Doch dann hat sich abends mein Kopf bemerkbar gemacht und irgendwie hatte ich das Gefühl… Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Weißt Du, seit Sarah’s Mutter… Ich hatte seitdem keine Beziehung und ich hatte das Gefühl, ich würde sie…“
„Betrügen.“ beende ich seinen Satz.
„Ja, genau das. Als ich Dich heute gesehen habe, wusste ich nicht, was ich fühlen sollte.“
Ich ziehe ihn ins Wohnzimmer, wo die Balkonmöbel abgestellt sind und ziehe ihn auf die Bank.
„Christopher, darf ich Dich fragen, was mit Sarah’s Mutter passiert ist?“
„Sarah’s Geburt war nicht einfach gewesen. Die Wehen haben fünf Wochen vor dem eigentlichen Termin eingesetzt. Es gab Komplikationen und es war echt haarscharf. Ihre Mutter allerdings…“
Er senkt den Kopf und ich höre sein leises Schluchzen.
„Ist okay, Christopher, Du musst nicht weiterreden.“
„Selbst jetzt nach vier Jahren zerreißt es mir immer noch das Herz, als wäre es erst gestern gewesen. Sie war meine große Liebe und wir hatten eine Menge Pläne. Und von einem Moment auf den anderen wird einem das alles genommen. Wären Sarah und Jacob nicht gewesen, würde ich jetzt nicht hier vor Dir sitzen.“
Instinktiv lege ich meinen Arm um ihn und Christopher versinkt in meiner Umarmung. Ich merke, wie er gegen die Tränen ankämpft. Ich streichle ihm über den Kopf.
„Christopher, lass es uns einfach langsam angehen. Ich möchte Dich gerne kennen lernen, denn ich mag Dich wirklich sehr. Wir sind erwachsen, beide haben wir unsere Vergangenheit, mit der jeder von uns zurecht kommen muss. Ich denke, erst, wenn wir uns wirklich sicher sind, dass wir das Geschehene hinter uns lassen können, sind wir bereit für etwas neues.“
Er richtet sich auf und schaut mich an. „Willst Du es wirklich versuchen?“
Mit meinem Handrücken wische ich ihm eine einzelne Träne von seiner Wange. „Wenn Du es auch möchtest!“

Kaum hat sich Christopher wieder vollends im Griff, kommt Marcus um die Ecke.
„Christopher, wir sind uns einig. Dieses Haus oder keines.“
Der Immobilienmakler, wie ich ihn vor knapp zwei Wochen zum ersten Mal erlebt habe, ist zurück. Er lächelt, seine Augen strahlen und sein Kummer ist verschwunden.
„Freut mich zu hören, Marcus. Dann werde ich das Objekt sofort von unserer Homepage nehmen und die Papiere fertig machen.“
Er holt seinen Timer aus der Tasche und geht zu Nina in die Küche.
Marcus’ Blick haftet auf mir. „Alles okay?“
„Alles bestens, Mac!“ Und diesmal ist es auch wirklich wahr.

Ich warte im Wohnzimmer zusammen mit Mathilda auf die drei. 20 Minuten später kommen sie und strahlen über’s ganze Gesicht.
„Nicky, wenn Du nicht gewesen wärst, hätten wir dieses Schmuckstück nie gefunden!“ fällt mir Nina regelrecht um den Hals.
„Hey, schon gut. Wer weiß, was Euch durch mich durch die Lappen geht.“
„Ha, als ob es was besseres gibt als Lawson Immobilien!“ wirft Christopher lachend dazwischen.
„Dann sehen wir uns am Samstag Nachmittag, wenn Ihr zwei uns besucht, ja?“ fragt Marcus. „Bringst Du dann die Unterlagen gleich mit oder dauert so was länger?“
„Ich werde Eure gleich ausfertigen, wenn ich im Büro bin. Soll sich Jacob zur Abwechslung mal um den restlichen Papierkram kümmern. Der drückt sich gern davor und macht lieber Besichtigungstermine. Also dann bis Samstag. Ich denke, dass ich so gegen 3 oder halb 4 bei Euch sein werde.“
Er verabschiedet sich von den beiden, drückt Mathilda und als er mich kurz umarmt, flüstert er mir ein „Danke“ ins Ohr. Ich weiß, wofür es ist.

Punkt 3 Uhr hält der Wagen in der Auffahrt. Christopher kann gar nicht so schnell reagieren und schon ist Sarah auf dem Weg ins Haus. Mathilda hat natürlich vom Fenster aus die beiden auch schon gesehen und steht parat. Die beiden rasen förmlich an uns vorbei und verschwinden im Obergeschoss. Während Nina und ich uns um den Kaffee kümmern, führt Marcus Christopher ins Wohnzimmer an den Esstisch. Als ich mit dem Tablett um die Ecke komme, muss ich für einen Moment schlucken. Die beiden stehen um den Tisch über Papiere gebeugt und Christopher ist heute ein Mix aus Privatmann und Makler: Jeans mit Jackett. Nina kommt mit der Kanne Kaffee, grinst mich von der Seite an und nickt dann in seine Richtung. Ich merke wie ich leicht rot werde, als ich zurücklächle.
„Könntet Ihr vielleicht mal die Sachen etwas zur Seite räumen. So, wie ich Dich kenne, Mac, würdest Du mit Sicherheit Flecken auf die Unterlagen machen und Christopher könnte das ganze gleich noch mal machen.“
Wir müssen lachen und in diesem Moment bemerkt ich auch Christopher. Er nimmt mir das Tablett ab und dabei berühren sich unsere Hände. Mir wird heiß und kalt und meine Knie zittern. Führ Dich nicht auf wie ein Teenager, Nicky! sage ich in Gedanken zu mir selbst.

Die drei besprechen die einzelnen Vertragsklauseln und mir wird dabei leicht schwindelig. Na schön, mir wird schwindelig und langweilig. Ich räume das Geschirr ab und mach mich in der Küche zu schaffen. Mit lautem Gepolter kommen Mathilda und Sarah von oben zu mir gerannt.
„Können wir auf den Spielplatz gehen?“ schaut mich Mathilda mit ihren großen grünen Augen an.
„Ich weiß nicht, mein Engel. Du musst erst Deine Mommy oder Deinen Daddy fragen. Und wenn Sarah mitgehen möchte, muss sie auch ihren Daddy fragen.“
Ich kann meinen Satz fast nicht zu Ende sagen, denn schon sind sie im Wohnzimmer und ich höre sie losplappern.
„Wisst Ihr was, Ihr zwei Mäuse?“ höre ich Christopher’s warme Stimme. „Tante Nicky und ich gehen mit Euch beiden zum Spielplatz. Dann können sich Mathilda’s Eltern nochmal in Ruhe die Sachen, die ich ihnen mitgebracht habe, durchschauen. Was haltet Ihr davon?“
Die beiden Mädchen kreischen förmlich und von Marcus höre ich ein „Also wenn’s Dir nichts ausmacht…“.
Wieso fragt er mich eigentlich? Naja, wahrscheinlich, weil er genau weiß, dass ich ihn dann vielleicht genauso anschreien würde wie Mathilda und Sarah es getan haben. Ok, ganz ruhig, Nicky. Oooooohm.

Christopher kommt zusammen mit Nina zu mir in die Küche.
„Ist es okay für Dich, wenn Ihr beide mit den Kleinen ne Runde rausgeht? Du kennst ja den Weg zum Spielplatz noch, oder?“
„Klar. Dann lasst uns mal die dicken Klamotten anziehen. Christopher, ich sollte Dir gleich sagen, dass man bei Mathilda immer mindestens eine Stunde auf dem Spielplatz verweilt.“
„Kein Problem für mich. Sarah habe ich auch gelehrt, die Natur zu genießen, was im Klartext bedeutet, dass wir sehr viel an der frischen Luft sind – und lange.“

20 Minuten später geht es los vorbei an den Reihenhäusern, durch den Park, die Abkürzung über die Wiese am Waldrand und dann sind wir da. Sobald die beiden Mädchen den Spielplatz erspäht haben, gibt es für sie kein Halten mehr. Ein Blick zu uns, ein Kopfnicken unsererseits und schon sind sie auf und davon. Wir beide laufen langsam zu ihnen und reden über belanglose Dinge. Wir wundern uns, dass wir die einzigen auf dem Spielplatz sind – und das an einem Samstag Nachmittag. Allerdings sind wir ziemlich spät dran, denn es dämmert bereits. Da die Bänke gefroren sind, gehen wir zu den Schaukeln und setzen uns auf zwei. Wir schauen den beiden Flöhen zu, wie sie auf der Rutsche immer wieder nach unten gleiten, im Sandkasten – naja, jetzt wohl eher Schneekasten – herumtollen oder die beiden Schaukeln neben uns in Beschlag nehmen.

Als wir gerade wieder so richtig in ein Gespräch vertieft sind, trifft mich ein Schneeball am Rücken. Ich drehe mich um und Sarah schaut mich mit verschmitztem Blick an.
„Na warte!“ rufe ich ihr zu, forme einen Schneeball und werfe ihn ihr entgegen – natürlich treffe ich nicht, obwohl ich es darauf angelegt hatte.
Im nächsten Moment werde ich erneut getroffen – diesmal schaut mich Christopher grinsend an.
„Los, Mathilda, wir zwei gegen Sarah und Christopher.“
Das lassen sich alle drei nicht zweimal sagen und schon gibt es eine regelrechte Schlacht. Wir rennen über den Spielplatz, verstecken uns hinter kleinen Schneehäufen und führen uns auf wie kleine Kinder. Als ich mich gerade hinter einer Wippe für die nächste Attacke bereit mache, kommt eine Hand von der Seite und seift mein ganzes Gesicht mit dem kalten Weiß ein.
„Fuck, Christopher!“ schreie ich und drehe mich in Windeseile zu ihm um.
Gott sei Dank habe ich noch eine Handvoll Schnee, die ich eben formen wollte und revanchiere mich sofort dafür. Er ist total perplex und als ich vor der nächsten Attacke fliehen will, hält er mich am Arm fest. Christopher ist schnell, denn schon habe ich den nächsten Schnee abbekommen: eine komplette Ladung im Hals. Ich will mich losreißen, stolpere dabei aber über eine Wurzel, die sich unter dem hohen Schnee versteckt hat. Er versucht, mich aufzufangen, aber ich reiße ihn mit nach unten. Wir liegen lachend aufeinander und ehe wir uns richtig beruhigt haben, küssen wir uns. Man sagt ja immer: aller guten Dinge sind drei und so ist es auch in unserem Fall. Zum ersten Mal lassen wir unseren Gefühlen freien Lauf und der Kuss wird leidenschaftlicher. Ich spüre, wie Christopher leicht seinen Mund öffnet und sich seine Zunge den Weg zu meinen Lippen bahnt. Ich lasse alles mit mir machen und erlaube ihm, mit meiner zu spielen. Für einen Moment versuche ich mich auf die Mädchen im Hintergrund zu konzentrieren, um mich zu vergewissern, dass es ihnen gut geht und dann bin ich in Sekundenschnelle wieder bei Christopher. Immer wilder werden wir beide, kugeln uns dabei im Schnee, spüren aber nichts von der Kälte. Uns ist warm, sehr warm.

In meinem Kopf kommen plötzlich Gedanken zum Vorschein, die ich absolut nicht erwartet hatte: ich will mehr! Doch wie, wann, und vor allem, wo? Christopher lässt von mir ab und schaut mich mit großen Augen an. Und wie schon einmal sehe ich wieder, dass er sich die gleiche Frage stellt.
„Wir wollten uns doch Zeit lassen?!“ lächle ich ihn an.
„Gut, dass wir nicht allein sind, oder?“ erwidert er.
Gerade, als wir aufstehen wollen, kommen Mathilda und Sarah mit Schneebällen auf uns zu und bombardieren uns.
„Hey, hey, wir ergeben uns, Ihr habt gewonnen!“ bringe ich lachend hervor.
Christopher steht auf, hilft dann mir auf die Beine und ein Blick auf die Uhr sagt uns, dass wir langsam den Heimweg antreten sollten. Nachdem wir noch Sarah’s Handschuh gefunden haben, den sie während der Schlacht verloren hatte, machen wir uns auf den Weg ins Warme.

Kurz vor 7 Uhr schließen wir die Tür auf, wo uns bereits ein atemberaubender Duft entgegenkommt. Nina kommt aus der Küche.
„Ja, ja, wenn’s ums Essen geht, braucht man Euch nicht mal zu rufen, da kommt Ihr von ganz alleine. Na los, die gesamte Mannschaft einmal ausziehen, Hände waschen und dann können wir auch schon essen.“
Christopher und ich gehen mit den Mädels nach oben und helfen den beiden beim Umziehen. Er hatte vorsorglich ein zweites Outfit für Sarah mitgenommen.
„Bei Sarah ist es immer angebracht, Wechselklamotten dabei zu haben. Ich glaube, in dieser Hinsicht kommt sie nach Jacob. Der hat sich auch immer gern im Dreck gewälzt.“
Nachdem auch wir unter dem warmen Wasser wieder auftaut sind, gehen wir ins Wohnzimmer, wo es herrlich nach Braten riecht.
„Deutsche Küche. Ich hoffe, das ist okay für Dich und Sarah.“ schaut ihn Nina fragend an.
„Ich bin immer offen für Neues.“ strahlt er zurück und hilft ihr beim Verteilen.

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