Kapitel 6

Das Essen ist einfach nur köstlich und nach einem sehr leckeren Dessert sehen wir Mathilda und Sarah an der Nasenspitze an, dass sie im Stehen schlafen könnten.
„Ich sollte jetzt aufbrechen, damit Sarah in ihr Bett kommt.“
„Okay, dann kommen wir wegen den letzten Details des Vertrages nächste Woche in Dein Büro, Christopher“, erwidert Nina.
Doch Marcus hat eine – für meinen Geschmack – viel bessere Idee.
„Wieso bleibt Ihr beide nicht einfach hier? Sarah kann bei Mathilda schlafen und Du bekommst das Sofa in meinem Arbeitszimmer. So musst Du Sarah nicht aus ihrem Dösen rausreißen und Du kannst mit uns noch ein Glas Wein trinken.“
„Ich will Euch keine Umstände machen!“
„Das sind doch keine Umstände!“ schaltet sich jetzt auch Nina ein. „Scheint so, als hätte mein Mann zur Abwechslung mal wieder eine gute Idee.“
Wir lachen und Christopher willigt schließlich ein. Die Mädchen bekommen davon schon nichts mehr mit. Sie haben sich direkt nach dem Nachtisch auf das Sofa verkrümelt und als wir die beiden jetzt ins Bett bringen wollen, schlafen sie bereits. Christopher und Marcus nehmen sie auf die Arme und tragen sie nach oben.

Währenddessen kümmere ich mich mit Nina um die Küche und dabei quetscht sie mich mal wieder aus.
„Und???“ Es ist nur ein Wort, aber ihre Augen stellen tausend Fragen auf einmal.
Ich erzähle ihr von der Schneeballschlacht und lasse zunächst unser Wälzen im Schnee aus, doch sie stupst mich in die Seite.
„Also wenn ich an so ein paar Hollywood-Streifen denke, ist da immer was ganz anderes passiert.“
Ich spüre die Hitze aufsteigen. Na toll – ich brauch gar nichts sagen. Mein roter Kopf spricht Bände und das sehe ich Nina auch an.
„Wusst' ich’s doch! Und, war er gut?“
„Ich kann mich nicht beschweren!“ grinse ich sie an und gehe in Gedanken noch einmal den wohl romantischsten Moment seit einer gefühlten Ewigkeit durch.
„Seine Nähe tut Dir gut, hab ich recht?“
Ich nicke. Langsam gestehe auch ich mir ein, dass er das Beste ist, was mir seit Langem passiert ist. Dann hören wir Marcus und Christopher auf der Treppe.

Den Rest des Abends verbringen wir auf den gemütlichen Sofas im Wohnzimmer und lernen uns besser kennen. Wir merken gar nicht, wie schnell es doch nach Mitternacht geworden ist und irgendwann werden unsere Augenlider schwer.
„Ok“, mache ich den Anfang. „Ich begebe mich jetzt mal ins Bett.“
Auch Nina erhebt sich. „Sehr gute Idee, Nicky. Wollt Ihr noch eine Weile hier bleiben?“ schaut sie Marcus und Christopher fragend an.
„Ich glaube nicht“, antwortet Christopher und verkneift sich ein Gähnen. „Ich bin auch ziemlich k.o.“
Wir bringen die Gläser in die Küche, Marcus schnappt sich Christopher, um ihm das Arbeitszimmer zu zeigen und Nina und ich gehen nach oben.
Er hat echt schon ne Menge mitgemacht, der Ärmste.“ sagt sie zu mir, als wir vor dem Gästezimmer stehen. „Ihr habt Euch anscheinend gesucht und gefunden. Gebt Euch Zeit, aber geht trotzdem aufeinander zu.“
Sie gibt mir einen Gutenachtkuss und verschwindet dann, nachdem sie nochmal kurz bei den Mädchen reingeschaut hat, im Schlafzimmer, während ich im Bad verschwinde, eine kurze Katzenwäsche mache und dann völlig erledigt ins Bett falle.

Allerdings kann ich einfach nicht einschlafen. Meine Gedanken kreisen immer wieder um Christopher. Während wir auf der Couch saßen, haben sich immer wieder unsere Hände oder Beine zufällig berührt und das hat mich nicht wirklich kalt gelassen. Zu wissen, dass er jetzt nur ein Stockwerk unter mir im Bett liegt und schläft, zaubert mir ein Lächeln auf die Lippen. Er ist so nah und doch so fern, geht es mir durch den Kopf. Ich schaue auf die Uhr und stelle fest, dass ich bereits fast eine Stunde grübele. Du solltest endlich schlafen sonst kommst Du morgen nicht aus den Federn, Nicky!

Gerade, als ich mich auf die andere Seite drehen und meine Augen schließen will, klopft es ganz leise an meine Tür. Ich richte mich auf und denke im ersten Moment, dass es vielleicht Mathilda ist, die nach meinem kleinen Sturz auf dem Eis abends zu mir ins Zimmer kam und mir einen Gutenachtkuss gab. Aber wieso sollte sie heute kommen?
„Ja?“ Die Tür geht vorsichtig auf… und Christopher steht vor mir.
Auch jetzt noch mit der Jogginghose von Marcus und seinem Shirt sieht er sehr anziehend aus. Mir stockt leicht der Atem – was will er hier? Er schließt die Tür und lehnt sich mit dem Rücken dagegen. Seine Augen mustern mich – genau wie ich ihn.
„Ist alles in Ordnung, Christopher?“ Es ist dunkel im Zimmer, aber das Licht des Mondes erlaubt es mir, ihn trotz allem gut zu sehen.
Mit gesenktem Kopf kommt er vorsichtig ein paar Schritte auf mich zu. „Nicky, ich… Also… Versteh das jetzt nicht falsch.“
Seine Stimme überschlägt sich ein wenig. So, als ob er kurz davor ist zu weinen. Was hat er nur?
„Kannst Du mich mal in den Arm nehmen?“ Jetzt bin ich vollends irritiert.
„Was soll ich?“
Er kommt näher und steht jetzt direkt an meinem Fußende. „Weißt Du, es gibt immer wieder Momente, die mich Sarah’s Mutter extrem vermissen lassen. Es sind die unterschiedlichsten Dinge – heute waren es Nina und Marcus. Sie sind so eine schöne Familie und verwirklichen ihre Träume, die mir so bekannt vorkommen. So etwas wirft mich immer völlig aus der Bahn und normalerweise suche ich dann immer die Nähe von Sarah. Meist gehe ich dann nachts zu Sarah und lege mich neben sie ins Bett. Das beruhigt mich immer. Aber heute…“
Ich weiß, was er meint. „Heute kannst Du das nicht tun, weil sie bei Mathilda schläft.“
Er nickt. „Ich kann jetzt nicht allein sein, sonst frisst mich der Schmerz auf. Aber ich kann auch verstehen, wenn Du das nicht möchtest. Ist ja schon eine etwas außergewöhnliche Bitte.“
Ich rutsche ein wenig Richtung Wand, so dass er Platz hat, sich auf die Bettkante zu setzen. Er sitzt mit dem Rücken zu mir und schaut durch das Fenster.
„Mach Dir keine Sorgen“, sage ich nach einem kurzen Schweigen. „Es kommt nicht falsch bei mir an. Ich habe während meines Scheidungsjahres auch oft solche Momente gehabt. Leider hatte ich niemanden, der mich jederzeit in den Arm nehmen konnte. Es ist okay.“
Ich verschränke mein Beine zu einem Schneidersitz, lege meine Hand auf seine Schulter und gebe ihm so zu verstehen, dass er sich umdrehen soll. Ich kann sein leichtes Lächeln sehen und wie ein kleines Kind versinkt er dann in meinen Armen. Ich fühle den unregelmäßigen Atem – diesmal lässt er seinen Tränen freien Lauf. Es dauert eine Weile, bis er sich langsam wieder beruhigt hat. Er löst sich aus meiner Umarmung und seine Augen sind rot. Ich konnte noch nie wirklich Männer weinen sehen, aber dieser Anblick bricht mir das Herz. Noch bevor ich richtig über meine Worte nachdenken kann, spreche ich sie auch schon laut aus.
„Möchtest Du, dass ich heute Nacht Sarah ersetze?“
Für einen kurzen Augenblick schaut er mich fragend an, aber er scheint meine Aufrichtigkeit zu sehen. Christopher steht auf, nimmt sich eine Decke von der Fensterbank und ein kleines Kissen und breitet alles auf dem Fußboden neben meinem Bett aus.
„Was machst Du da?“ 

Er schaut mich an, als würde er mich nicht verstehen. „Wo soll ich denn sonst schlafen? Die Fensterbank ist für mich dann doch etwas zu klein.“
Ich entknote meine Beine aus dem Schneidersitz, lege mich wieder richtig hin und rutsche an die Wand. „Ich denke, Du suchst Nähe und Wärme. Die bekommst Du nicht auf dem kalten Fußboden.“
„Bist Du Dir sicher?“
Ich kann seine Falten auf der Stirn sehen. „Ich bin mir sicher, sonst hätte ich es nicht angeboten. Wieso sollen Freunde sich nicht ein Bett teilen?“
Für den Bruchteil einer Sekunde sehe ich seinen inneren Kampf, doch er entscheidet sich dafür. Zaghaft legt er sich neben mich, ich decke ihn mit der Hälfte meiner Bettdecke zu und dann liegen wir einfach nur nebeneinander und schauen uns an.
„Ich weiß nicht, was Du mit mir machst, Nicky, aber es fühlt sich gut an. Seit langem fühle ich mich wieder richtig geborgen.“
Ich sehe im Mondlicht seine Augen glitzern. Mit meiner Hand fahre ich vorsichtig über seine Wange und dann ziehe ich ihn in meine Arme – vorsichtig, sanft, als wäre er ein kleines Kind. Nur langsam beruhigt sich sein Atem und er schläft ein. Ich brauche noch eine Weile, doch dann übermannt auch mich die Müdigkeit.

Als ich am nächsten Morgen aufwache, liege ich allein im Bett. Sollte das vielleicht alles nur ein Traum gewesen sein? Ich drehe mich zur Seite und sehe Christopher am Fenster stehen.
„Geht’s Dir gut, Christopher?“
Er dreht sich um, setzt sich auf die Bettkante und küsst mich auf die Wange. „Dank Dir geht’s mir blendend! Ich verschwinde jetzt nach unten.“
„Das brauchst Du eigentlich nicht.“
Seine Augen sehen mich irritiert an. „Wie jetzt?“
„Naja, ich glaube, sehr überrascht wären Nina und Marcus nicht, wenn sie Dich aus meinem Zimmer kommen sehen.“ Ich kann mir ein Lachen nicht verkneifen.
„Anscheinend sind wir mal wieder die einzigen, die etwas länger brauchen, um es wirklich zu kapieren, oder?“ erwidert er.
Ich richte mich auf. „Wir sind halt einfach vorsichtig, nachdem, was wir beide erlebt haben. Was wir gefühlt haben und eigentlich auch immer noch fühlen, können sich andere nicht vorstellen.“
Ich sehe, wie er in Gedanken wieder abdriftet und halte ihn davon ab.
„Na los, dann geh Du mal nach unten. Ich werd in ein paar Minuten auch nachkommen und dann machen wir Frühstück, okay?“
Christopher steht schon an der Tür, als er mir antwortet. „Die beste Idee des Tages. Ich sterbe vor Hunger!“

Ich stehe Zähne putzend im Bad, als ich bereits den Geruch von Kaffee in der Nase habe. Mein Spiegelbild grinst mich förmlich an. Soviel zum Thema „langsam angehen“, was? Auf dem Weg nach unten kommen mir Mathilda und Sarah entgegen, die noch ziemlich verschlafen aus der Wäsche schauen.
„Na Ihr zwei Mäuse. Habt Ihr gut geschlafen?“
Sarah nickt. „Das will ich unbedingt nochmal machen!“ und schon sind die beiden im Bad verschwunden.
Christopher’s Anblick lässt mein Herz erwärmen. Er steht mit einer Schürze um den Bauch am Herd und macht Pancakes. Der Duft von frischen Brötchen durchzieht das komplette Erdgeschoss und die Sonne scheint auf den Esstisch.
Er hört mich kommen und lächelt mich an. „Weißt Du, ob die beiden schon wach sind?“
„Keine Ahnung, Marcus ist ein Langschläfer und am Wochenende ist er eigentlich immer schwer wach zu bekommen. Aber ich schau mal, ob ich die beiden nach unten locken kann.“

„Wen willst Du nach unten locken?“ höre ich Marcus hinter mir.
„Eigentlich Dich, weil ich dachte, Du als Langschläfer bist noch im Traumland.“
„Nee, ausnahmsweise mal nicht. Mathilda und Sarah scheinen ‘nen Heidenspaß beim Zähneputzen zu haben und außerdem hat mich der Kaffeeduft regelrecht aus dem Bett gezerrt. Ich wusste gar nicht, dass Christopher so gut Frühstück machen kann.“
„Tja, Marcus, das lernt man alles als allein erziehender Vater. Ich kann ja Sarah nicht nur mit Cornflakes groß ziehen.“
Dann kommt auch schon Nina mit den beiden Mädchen nach unten und wir decken gemeinsam den Tisch.
„Und, was wollen wir heute machen?“ fragt Marcus in die Runde.
„Wir hatten überlegt, dass wir alle zusammen noch einen schönen Ausflug machen könnten. Habt Ihr Zeit, Christopher?“ fragt ihn Nina.
Sarah’s Blick lässt keinen Spielraum für eine andere Antwort als „Ja“ und so entschließen wir uns, den Zoo außerhalb Toronto’s zu besuchen.

Nach dem Frühstück packen wir Sarah und Mathilda dick ein und machen uns auf den Weg.
„Fährst Du bei mir mit?“ fragt mich Christopher mit einem Blick, dem ich nur schwer widerstehen kann.
„Gerne“, antworte ich und steige ein.
Auf der Fahrt zum Zoo versuchen wir beide, ein normales Gespräch zu führen, aber sobald sich unsere Blicke treffen, stocken wir. Ich fühle mich wieder wie ein Teenager. Kaum sind die ersten Schilder vom Zoo zu sehen, ist Sarah auf dem Rücksitz kaum noch zu bremsen.
„Daddy, wir müssen unbedingt zu den Elis. Matu ist jetzt bestimmt schon ganz groß!“
„Matu ist jetzt schon ein großer Junge, Schatz. Den wirst Du kaum wieder erkennen!“
Ich schaue Christopher irritiert an. „Was sind denn Elis und wer ist Matu?“
Noch bevor er antworten kann, versucht die Kleine, mich aufzuklären.
„Matu ist ein Eli-Baby. Er wurde letztes Jahr zu Weihnachten geboren.“
Ok, jetzt weiß ich, dass Matu ein Jahr alt ist, aber was es ist, weiß ich immer noch nicht. Christopher scheint meine Frage in meinen Augen zu sehen.
„Matu ist ein Elefantenjunges. Das Wort bekommt sie noch nicht raus.“
Wir müssen lachen und auch Sarah quiekt hinter uns vergnügt.

Während er und Marcus die Eintrittskarten besorgen, haben Nina und ich alle Mühe, unsere Flöhe davon abzuhalten loszurennen.
„Es geht ja gleich los. Eure Daddies müssen erst bezahlen.“
Mathilda schaut sie mit großen Augen an.
„Kauft Daddy auch Futter?“
Doch bevor Nina antworten kann, rennt sie auch schon auf Marcus zu, der natürlich eine große Tüte besorgt hat. Auch Christopher wird das Tierfutter regelrecht aus der Hand gerissen.
„Aber tut uns bitte einen Gefallen und bleibt immer in unserer Nähe, hört Ihr! Ihr müsst immer prüfen, dass Ihr uns noch seht. Versprochen?“
Sarah und Mathilda nicken und schon rennen sie zum nächst besten Gehege. Die beiden sind nicht zum ersten Mal hier, so dass wir keine Probleme damit haben, sie allein auf Entdeckungsreise zu schicken.

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