Kapitel 11

Zwei Stunden Flug liegen vor mir und ich versuche, mich mit Lesen und Musikhören abzulenken. Immer wieder überlege ich, Christopher’s SMS zu löschen, aber ich bringe es nicht über’s Herz. Wieso habe ich das alles überhaupt erst zugelassen, frage ich mich immer und immer wieder. Wieso habe ich mich nicht einfach nur auf meinen Urlaub bei meinem besten Freund konzentriert? Wieso musste mir jemand beim Eislaufen den Kopf verdrehen? Wieso nur wurde ich so vom Pech verfolgt? Was hatte ich der Welt getan?

Am frühen Nachmittag steige ich in New Orleans in ein Taxi und lasse mich zum Hotel bringen. Zwei weitere SMS waren während des Fluges eingetrudelt, aber ich ignoriere sie vollkommen. Das kleine Familienhotel liegt mitten in der Innenstadt und die Weihnachtsbeleuchtungen lenken mich ein wenig ab. Es ist alles typisch amerikanisch mit viel bunten Lichtern und zwischen den vereinzelten Winterliedern aus den Einkaufshäusern hört man aus den Clubs den typischen Jazz-Rhythmus dieser Gegend. Vielleicht war es doch gut, dieses Ziel zu wählen. Musik, Clubs, fremde Leute, die einen zwingen, sich auf das hier und jetzt zu konzentrieren, um ins Gespräch zu kommen – gibt es eine bessere Möglichkeit, Vergangenes ruhen zu lassen und nach vorne zu schauen? Kaum habe ich meine Koffer im Hotelzimmer verstaut, mache ich mich wieder auf den Weg ins Getümmel. Die Einheimischen und Touristen werden eins in dieser Musikmetropole und man wird einfach mitgerissen. Innerhalb von wenigen Stunden habe ich Christopher, Jacob und Toronto vergessen – zumindest glaube ich das.

Den ganzen Nachmittag verbringe ich in der Stadt, schaue mir Sehenswürdigkeiten an und kann abschalten. Am Abend komme ich an einem Restaurant mit angrenzendem Club vorbei und entschließe mich, dort etwas zu essen. Während ich auf das Dinner warte, genieße ich die Musik und das Leben in New Orleans. Obwohl Christopher ab und an vor meinem inneren Auge auftaucht, schaffe ich es, ihn beiseite zu schieben. Ich zahle und will eigentlich ins Hotel gehen, als ich an der Tür zum Club vorbeigehe. Wieso nicht, denke ich mir. Ich sollte Spaß haben, wieso wie eine alte Frau um 9 Uhr ins Bett gehen? Bereits jetzt ist reges Treiben, da eine Live-Band spielt. Da alle Tische belegt sind, setze ich mich an die Bar und bestelle einen Cocktail. Die Musik ist so ansteckend, dass meine Beine fast wie von selbst anfangen, im Takt mitzuwippen. Irgendwann hält es mich nicht mehr auf dem Hocker und ich mische mich unter die anderen auf die Tanzfläche. Ich fühle mich befreit, locker, als wäre meine Vergangenheit nie passiert. Als ich nach einer gefühlten Ewigkeit wieder an meinem Platz ankomme, bemerke ich, wie mich ein Mann vom anderen Ende der Bar beobachtet. Unsere Blicke treffen sich und er lächelt mich an, was ich erwidere. Er steht auf und kommt auf mich zu.

„Hi, ich bin Edward.“ stellt er sich vor.
„Nicky, freut mich.“
Ich gebe ihm die Hand und spüre seinen kräftigen Händedruck.
„Wartest Du auf jemanden oder bist Du allein hier. Ich darf doch ‚Du’ sagen?“
Eigentlich bin ich nicht der Typ, aber ich nicke. „Nein, ich bin allein hier. Ich… ich reise ein wenig durch die Gegend. Und das geht am besten allein. Und Du?“
„Ich wohne in der Nähe von New Orleans und das ist meine Stammclub. Allerdings komme ich meist nur unter der Woche her, weil dann die Touristen nicht ihre Nase hereinstecken.“
Er beißt sich verlegen auf die Unterlippe. „Sorry, sollte nicht gegen Dich gehen! Ich meinte eher die Familien mit ihren Kindern, die meinen, die Kleinen könnten im Urlaub ruhig später ins Bett gehen und uns damit auf den Keks gehen.“
Ich muss lachen.
„Kann ich Dich auf ‘nen Drink einladen? Versteh mich nicht falsch – ich möchte nicht als Draufgänger oder so erscheinen. Ich hab Dich allein gesehen und dachte mir, wir könnten zusammen allein hier den Abend verbringen.“
„Keine Sorge, ich versteh Dich nicht falsch!“ lüge ich ihn an, denn genau das waren eigentlich gerade meine Gedanken. „Kannst Du mir denn was empfehlen?“
„Hmm, wieviel Alkohol darf denn drin sein?“
Ich schaue ihn verschmitzt an. „Ich kann schon was vertragen, also überrasch mich.“
Er geht zum Barkeeper und ich höre, wie er zwei ‚Hurricane’ bestellt.
„Ein ‚Hurricane’?“ schaue ich ihn überrascht an, als er zurückkommt. „Um ehrlich zu sein, gibt’s den sogar in meiner Heimat. Ich dachte, Du bestellst jetzt was typisches aus der Gegend.“
„Ich weiß, dass es diesen Cocktail überall auf der Welt gibt, aber er stammt ursprünglich aus New Orleans und nur hier bekommst Du das Original.“

Nachdem wir mit unseren Gläsern angestoßen haben und ich feststellen muss, dass ein ‚Hurricane’ wie ich ihn kenne, gegen diesen hier wie ein harmloser Saft schmecken, reden wir ein wenig über uns. Doch keiner von uns beiden geht ins Detail, worüber ich mehr als froh bin. Irgendwann reißt uns die Musik mit und wir gehen auf die Tanzfläche. Bei den etwas langsameren Teilen versucht Edward mir näher zu kommen, aber sobald er mich auch nur ansatzweise berührt, gehe ich auf Abstand. Nicht schon wieder! Er scheint es zu verstehen und lässt nach einer Weile davon ab, über was ich sehr froh bin. Nach einer Ewigkeit entschuldige ich mich auf die Toilette und stelle dort erstaunt fest, dass es bereits halb 5 Uhr morgens ist. Als ich wieder auf dem Weg in den Club bin, kommt mir Edward bereits mit unseren Mänteln entgegen.
„Nicky, es ist schon spät. Ich sollte nach Hause gehen, da ich morgen noch ein paar Sachen wegen Weihnachten erledigen muss.“
„Du solltest wohl eher ‚heute’ sagen“, necke ich ihn.

An der frischen Luft merke ich die Auswirkungen des ‚Hurricane’. Natürlich ist es nicht bei einem geblieben und jetzt macht es sich bemerkbar. Ich schwanke für einen kurzen Moment, kann mich dann aber wieder fangen.
„Geht’s Dir gut?“ schaut mich Edward an.
„Ja, ja, keine Sorge. Allerdings werde ich beim nächsten Mal wohl nur bei einem ‚Hurricane’ bleiben.“
„Da vorne ist ein Taxistand. Ich bring Dich hin, ok?“
Dankend nehme ich das Angebot an und als er mir seinen Arm entgegenhält, hake ich mich bei ihm ein – sicher ist sicher. Er öffnet mir die Tür des Wagens und kurz, bevor er sie schließt, schaut er mich an.
„Vielleicht sieht man sich nochmal…“
Ohne eine Antwort abzuwarten, schließt er die Tür. Auf der Fahrt ins Hotel bin ich nicht in der Lage, mich auf irgend etwas zu konzentrieren. Mein Kopf dreht sich und ich bin froh, als ich endlich die Tür meines Zimmers schließe und in mein Bett falle.
 

Am nächsten Morgen wache ich voll bekleidet auf. Ich muss kurz überlegen wieso, aber als ich den Kopf anhebe, fällt es mir schlagartig wieder ein. Ich bestelle mir ein Frühstück auf’s Zimmer und frage noch nach einer Broschüre mit Tagesausflügen. Während ich auf den Zimmerservice warte, rufe ich Marcus an, um ihm zu sagen, wo ich bin, da er mich darum gebeten hatte.
„Du bist in New Orleans. Oh man, wie ich Dich beneide. Da wollte ich auch schon immer mal hin. Und was ist denn jetzt m…“
Ich schneide ihm das Wort ab. „Mir geht’s super hier, Mac, und im Moment ist dies das einzige, was zählt. Ok?“
„Verstehe. Klar. Und wie ist das Hotel. Was haste denn für ‘nen Nobelschuppen ausgewählt?“
Ich muss herzhaft lachen, was meinem Kopf allerdings gar nicht gut tut. „Nix Nobelschuppen. Es ist ein kleines Familienhotel. Heißt ‚Empress Hotel’ und reicht für mich voll und ganz. Du kennst mich – Hauptsache, das Bad ist sauber. Im Urlaub bin ich ja eh nur zum Schlafen in ‚nem Hotelzimmer.“
In diesem Moment klopft es an die Tür: „Zimmerservice.“
„Mac, ich muss Schluss machen. Gib Deinen Mädels einen Kuss von mir und frohe Weihnachten.“
„Das wünsch ich Dir auch, Nicky.“

Nach dem Frühstück buche ich in der City einen Ganztagstrip in die Umgebung. Ich besuche eine Plantage, fahre durch die anliegenden Sümpfe, besuche eine Krokodilfarm – ja, das ist Urlaub nach meinem Geschmack. Da mir im Vorfeld gesagt wurde, dass man mit leichten Gepäck diese Touren machen soll, habe ich alles wichtige im Hotel gelassen. Als ich am späten Nachmittag zurück bin und mich eigentlich nur umziehen will für den Abend, schaue ich wie immer kurz auf’s Handy: vier Anrufe in Abwesenheit, sieben SMS. Verrückt, geht es mir durch den Kopf. Seit gestern Nachmittag hatte ich nicht mehr an Christopher gedacht. Ich öffne eine SMS nach der anderen und der Wortlaut ist fast immer der gleiche: Christopher vermisst mich, will, dass ich mich melde und zurückkomme.
Und in der letzten SMS: „Ich brauche Dich, denn Du hast mein Leben wieder komplett gemacht.“
Mein Atem wird schneller, in meinem Hals bildet sich ein Kloß und mir wird schlagartig bewusst: mir geht es nicht anders. Er hat mir das gegeben, was ich schon seit Jahren nicht mehr bekommen habe: den Glauben an die Liebe. In meinem Kopf dreht es sich und ich entscheide mich, ihn anzurufen.

Drei Anläufe brauche ich, bevor ich seine Nummer auch wirklich bis zum Schluss wähle und es endlich klingeln lasse. Zu Hause geht keiner ran, also versuche ich es im Büro.
„Jacob Lawson, hallo?“
Mein Herz setzt schlagartig aus, für einen Moment bin ich wie gelähmt.
„Hallo, wer ist denn da?“
Ich lege den Hörer auf, ohne nur ein Wort gesagt zu haben. Ich will zu Christopher, aber wie soll das gehen… mit Jacob als sein Bruder? Die Tränen bahnen sich ihren Weg nach außen. Immer mehr merke ich, wie stark meine Gefühle sind. Christopher hat vielleicht gesagt, wir sind nur Freunde, aber für mich wird es plötzlich sonnenklar – ich liebe ihn. Aber diese Situation ist so ausweglos! Er geht mir nicht aus dem Kopf, eine Zukunft kann es aber auch nicht geben. Oder doch? Ich versuche es noch ein viertes und fünftes Mal bei ihm zu Hause, aber ohne Erfolg. Ich esse im Hotel noch ein kleines Abendessen und entscheide mich dann für einen Absacker an der Bar und einem Abend im Zimmer.

Als ich am nächsten Morgen aufwache, wird mir bewusst, dass in Deutschland heute Heilig Abend ist. Für die Menschen hier ist es ein Tag wie jeder andere. Tja, was macht man an solch einem Tag hier in New Orleans? Da das Wetter mitspielt, mache ich mich zu Fuß auf den Weg in die City. Einige Sehenswürdigkeiten hatte ich mir nur von außen angeschaut, weil die Zeit vorgestern dafür nicht gereicht hatte. Diese wollte ich heute abklappern und der Wehmut, die mich zu Weihnachten immer einholt, dadurch keine Chance geben. Allerdings können mich die Museen auch nicht davon abhalten, immer und immer wieder an Christopher zu denken. Ich versuche, ihn wieder zu Hause zu erreichen, aber diesmal ist nur der AB dran. Vielleicht sind sie ja alle zu ihrer Familie gefahren und verbringen dort die Feiertage. Ich entscheide mich, es danach noch einmal bei ihm zu versuchen.

Am frühen Nachmittag laufe ich zurück zum Hotel, um mir eine kleine Pause zu gönnen. Wie üblich grüße ich zwar beim Vorbeilaufen, registriere aber die Angestellten an der Rezeption gar nicht richtig. Ich warte auf den Aufzug und krame währenddessen in meiner Tasche, weil ich mein Handy suche, was sich wieder mal vor mir zu verstecken versucht. Ich sehe aus dem Augenwinkel, wie die Tür aufgeht und lasse die anderen Fahrgäste aussteigen. Endlich habe ich auch mein Handy gefunden, hebe den Kopf und schaue in warme braune Augen – Christopher! Völlig sprachlos starre ich ihn an! Ich spüre, wie sich ein Kloß in meinem Hals bildet, wie meine Augen feucht werden. Ich kann mich keinen Zentimeter rühren. Seine Lippen formen ein Lächeln und er kommt auf mich zu. Mit seinen Händen nimmt er meinen Kopf, hebt ihn leicht an, wischt mit den Daumen die Tränen links und rechts von meinen Wangen und schaut mich an. Christopher will etwas sagen, aber ich gebe ihm keine Gelegenheit dazu, denn ich kann nicht anders, als ihn zu küssen. Ich lasse meine Tasche fallen, schlinge die Arme um seinen Hals und bin einfach nur glücklich!

Als ich mich von ihm löse, sprudeln die Fragen nur so aus mir heraus.
„Was machst Du hier, woher weißt Du, in welchem Hotel ich bin, wie kommst Du hier her, warum…“
„Nun mal langsam“, unterbricht er mich. „Ich bin hier, weil… wegen Dir, Nicky! Ich hab mir solche Sorgen gemacht, nachdem Du nach der Feier einfach gegangen bist. Ich wollte mit Dir reden, Dich nicht allein lassen, aber Du hast einfach nicht reagiert.“
Ich weiß nicht, was ich sagen soll, schaue einfach nur wie gebannt in seine Augen.
„Aber… woher… ich…“ stottere ich vor mich hin.
„Woher ich wusste, wo Du bist?“ Ich nicke. „Naja, ich hab mir gedacht, dass vielleicht Dein bester Freund weiß, wo Du steckst. Ich hab mich zwar daran erinnert, dass er nicht in der Stadt ist, aber Du ihn eventuell auf dem Laufenden gehalten hast.“
„Du hast Mac in Deutschland angerufen? Wann?“
„Gestern morgen. Und dann habe ich einen Flug gebucht, Sarah gepackt und jetzt bin ich hier.“ Wieder nimmt er mich in den Arm.
„Du bist mit Sarah hier?“
„Glaubst Du, ich lass sie allein zu Hause?“
„Allein, aber Ja… ihr Onkel ist doch da.“
„Nein, im Moment ist er das nicht.“
Ich hebe meinen Kopf. „Was heißt ‚im Moment ist er das nicht’?“
Christopher holt tief Luft und schluckt. „Ich habe ihn am Dienstag vor die Tür gesetzt und seitdem hat er keinen Fuß mehr ins Haus gesetzt.“
„Aber Ihr arbeitet doch auch noch zusammen. Und was ist mit Sarah? Sie muss doch total verwirrt sein. Wo ist sie überhaupt?“
Wir laufen zusammen in die Lobby, wo wir uns auf die Couch setzen.
„Sarah schläft oben. Wir sind gerade erst angekommen. Und was Jacob betrifft: im Moment mache ich Home Office und er ist in unseren Büroräumen. So laufen wir uns nicht über den Weg. Ich weiß, dass er – während ich bei einem Besichtigungstermin war – ein paar Sachen geholt hat. Keine Ahnung, wo er zur Zeit schläft. Sarah denkt, er musste für ein paar Tage geschäftlich weg.“

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