Kapitel 12

Ich bekomme ein schlechtes Gewissen.
„Christopher, er ist trotz allem Dein Bruder und Sarah’s Onkel. Ich will nicht, dass sich Eure Beziehung wegen mir ändert. Ich hab Euch beide gesehen, Ihr seid ein Herz und eine Seele.“
Christopher richtet sich auf. „Nicky, ich bitte Dich! Er hat Dich belästigt und das in einer nicht gerade harmlosen Art. Er hat der Frau, die mir sehr viel bedeutet, weh getan und das werde ich ihm nie verzeihen.“
„…der Frau, die Dir sehr viel bedeutet?“ Mein Herz schlägt bis zum Hals.
„Nicky, was glaubst Du, warum ich hier bin?! Ich will keine Freundin zurückhaben, ich will die Frau, für die mein Herz schlägt wiederhaben. Je länger ich mir bewusst wurde, dass ich Dich vielleicht verloren habe, umso mehr wurde mir klar, wie viel… also… wie… wie sehr ich …“
Christopher atmet ein paar Mal stark ein und aus.
„…wie sehr ich Dich liebe!“ beendet er den Satz.
Er kann mir nicht in die Augen schauen, was mir mit einem Mal bewusst werden lässt, dass ihm das nicht leicht gefallen ist. Mit meinem Zeigefinger hebe ich vorsichtig seinen Kopf.
„Ich nehme an, das war eben nicht leicht für Dich, oder?“
Ich versuche, ihn anzulächeln, doch ich spüre, dass ich dazu viel zu gerührt bin. Ich bin eher kurz davor zu weinen.
„Das letzte Mal, als ich das zu einer Frau gesagt habe, war bei Jessica. Versteh mich nicht falsch, Nicky. Sie wird immer ein Teil von mir sein, aber mein Herz… Es schlägt jetzt für Dich und ich möchte, dass Du mit mir nach Hause kommst.“

Im ersten Moment will ich schreien vor Glück, doch plötzlich holt mich die Realität ein.
„Christopher, das geht nicht! Ich will nicht zwischen Dir und Jacob stehen. Ich kann aber auch nicht mit Dir zusammen sein, während ich weiß, dass Du ihn aus Deinem Leben geworfen hast. Schon allein Sarah wegen.“
„Und wie soll es jetzt weitergehen?“ schaut er mich traurig an.
Eine Antwort fällt mir nicht ein. „Ich weiß es nicht.“
Eine Weile sitzen wir schweigend nebeneinander, doch das macht mich schier wahnsinnig.
„Christopher, jetzt ist Weihnachten. Lass uns New Orleans zu dieser Jahreszeit genießen. Wir holen Sarah und dann gehen wir in die Kirche zum Gottesdienst. Ich habe eine wunderschöne gesehen, wo heute Abend sogar ein Gospelchor singt.“
Christopher, so wie ich ihn kenne, kehrt zurück. Seine Augen strahlen und sein gesamtes Gesicht erhellt sich.
„Du hast recht, lass uns Weihnachten feiern. Treffen wir uns in einer Stunde in der Lobby? Dann kann Sarah noch ne halbe Stunde schlafen.“
„Sehr gern.“
Wir steigen in den Aufzug, Christopher drückt die 3, ich die 4. Beim Aussteigen dreht er sich noch einmal kurz zu mir um, gibt mir einen Kuss auf die Wange und sagt „Bis später!“

Kaum im Zimmer angelangt, schreibe ich Marcus eine SMS.
„Danke, dass Du Christopher zu mir geschickt hast. Danke, dass Du nicht auf mich gehört hast, und hartnäckig in Bezug auf ihn geblieben bist. Ich hab Dich lieb!“
Schön, wenn man solche Freunde hat, denke ich bei mir. Ich werfe mich in mein bestes Outfit und stehe pünktlich um halb 5 Uhr in der Lobby. Der Fahrstuhl geht auf und Sarah erspäht mich.
„Nicky, Nicky. Gehen wir zusammen in die Kirche?“ Sie rennt in meine Arme.
„Wenn Du das möchtest.“
Sie lacht über’s ganze Gesicht und auch Christopher strahlt. Sein Anblick raubt mir fast den Atem: eine dunkle Jeans, ein schwarzes Shirt mit V-Ausschnitt und ein Sakko darüber. Was für ein Mann, geht es mir durch den Kopf.
„Können wir?“ reißt er mich aus meinen Gedanken. Er hält mir seinen Arm entgegen und zusammen laufen wir zur Kirche, die nur 20 Minuten zu Fuß entfernt liegt.

Der Gottesdienst geht fast drei Stunden, aber ich genieße jede Sekunde. Nicht nur wegen der Tatsache, dass ich so etwas noch nie erlebt habe und es einfach nur atemberaubend ist, sondern auch, weil Christopher neben mir sitzt. Die Kirche ist brechend voll, so dass er Sarah auf dem Schoß hat und sehr dicht an mich rutschen musste – sehr zu meiner Freude. Nach der Messe gibt es für die Kinder noch heißen Kakao, so dass wir erst nach 9 Uhr das Gotteshaus verlassen.
„Das war echt eine tolle Idee von Dir, Nicky!“ sagt Christopher und nimmt mich in den Arm, während wir den Bürgersteig entlang laufen.
Sarah hat er an der anderen Hand und ich lächele in mich hinein. Für andere müssen wir wie eine glückliche Familie aussehen. Die Kleine gähnt immer wieder neben uns und wir entscheiden uns, ins Hotel zurück zu gehen.
„Daddy, kann mich Nicky ins Bett bringen und mir noch was vorsingen?“
Noch bevor er etwas sagen kann, beantworte ich ihre Frage. „Natürlich, das mache ich sehr gerne.“
Ich nehme die Kleine auf den Arm, Christopher gibt ihr einen Gute-Nacht-Kuss und drückt mir den Zimmerschlüssel in die Hand. „Ich warte hier in der Lobby, ok?“

Sarah ist so erschöpft von dem Flug und dem Abend in der Kirche, dass es keine 10 Minuten dauert, bis sie im Land der Träume ist. Ich ziehe ihre Decke nach oben und gebe ihr einen Kuss auf die Stirn. In der Bar sitzt Christopher mit dem Rücken zu mir und ich beobachte ihn für ein paar Sekunden, was mich lächeln lässt. In meinem Bauch beginnt es wieder zu kribbeln und innerlich schicke ich ein Dankesgebet zu Gott, dass er mir diesen Mann geschickt hat – ich als absoluter Atheist danke Gott, wer hätte das gedacht! In diesem Moment dreht er sich zu mir um und neigt seinen Kopf zur Seite.
„Na, wo bist Du denn mit Deinen Gedanken?“
Ich gehe auf ihn zu. „Genau hier, hier bei Dir!“

Nach dem zweiten Cocktail entschließe ich mich, so langsam nach oben zu gehen. Auch ihm ist es ganz recht, möchte er doch Sarah nicht so lang allein lassen.
„Wollen wir morgen alle zusammen zur Feier des Tages brunchen gehen?“ fragt mich Christopher, als wir langsam zum Aufzug gehen. „Ich hab auf dem Weg von der Kirche ins Hotel ein Restaurant gesehen, die morgen offen haben.“
„Klingt nach einer guten Idee. Wann wollen wir aufbrechen?“ In diesem Moment geht die Fahrstuhltür auf. „Warte einen Moment, ich schau nur schnell nach Sarah.“
Ich setze mich auf die Couch neben dem Fahrstuhl und warte dort auf ihn. Nach ca. 10 Minuten ist er wieder da.
„Sie schläft wie ein Stein. War ein aufregender Tag für sie. Also, wo waren wir? Ach ja, beim Brunchen.“
„Na, noch waren wir nur bei der Planung. Das Brunchen kommt erst morgen früh.“ Wir lachen.

„Ich bring Dich noch zu Deinem Zimmer, ok?“
Er holt den Aufzug und während wir warten, verabreden wir uns für halb 11 Uhr am nächsten Morgen in der Lobby. Auf dem Weg zu meinem Zimmer kommt die Konversation ins Stocken und mein Magen fährt plötzlich Achterbahn.
„Zimmer 17, das ist meins.“
Ich bleibe stehen und fühle mich mal wieder wie ein Teenager, der von seinem Date nach Hause gebracht wird. Anscheinend geht es ihm aber genau so, denn er beißt ständig auf seiner Unterlippe herum.
„Also dann, Christopher, gute Nacht und bis morgen.“
Ich stecke meinen Zimmerschlüssel ins Schloss, als er mich plötzlich am Handgelenk festhält, zu sich dreht und küsst. Nicht so zaghaft wie noch am Anfang, sondern gespickt mit voller Leidenschaft. Nach einiger Zeit gibt er mir wieder die Möglichkeit zu atmen, lässt mein Handgelenk los und will zum Aufzug gehen. Für einen Sekundenbruchteil überlege ich, doch diesmal gewinnt mein Bauch. Ich renne ihm fast schon hinterher.
„Christopher, geh nicht!“
Er dreht sich noch einmal um, ich ergreife den Kragen seines Shirts und ziehe ihn zu mir nach unten. Christopher versteht sofort. Noch während wir uns küssen, bugsiert er mich zurück zu meinem Zimmer, lehnt mich leicht gegen die Wand und versucht mit einer Hand, die Tür zu öffnen. Gott sei Dank hatte ich den Schlüssel stecken gelassen, geht es mir durch den Kopf. Christopher drückt die Klinke nach unten und wir fallen regelrecht in den Raum. Händeringend versuchen wir, uns irgendwo festzuhalten, aber wir fallen auf den Boden, Christopher auf mir. Wir müssen lachen, doch plötzlich wird es still. Er stößt mit dem Fuß die Tür zu und küsst mich erneut.

Doch mit einem Mal stoppt Christopher. Ich sehe ihn verblüfft an, als er aufsteht.
„Ist etwas nicht in Ordnung?“
„Ich kann nicht, Nicky!“
Er hält mir seine Hände entgegen, so dass ich mich an ihm hochziehen kann.
„Ist schon ok, Christopher! Wir wollten es ja langsam angehen.“
Er schüttelt energisch den Kopf. „Nein, nein, das ist es nicht! Ich kann mich nur einfach nicht auf uns konzentrieren, wenn Sarah allein in einem fremden Zimmer schläft und ich nicht nur eine Tür weiter bin. Was, wenn sie aufwacht und Angst bekommt?“
Ich trete ganz nah an ihn heran und nehme seinen Kopf in meine Hände. „Du bist der beste Daddy, den ich kenne! Dann holen wir das einfach nach.“
Ich gebe ihm einen Kuss.
„Nicky?“ Christopher's Blick wird fragend. „Kommst Du mit uns nach Hause?“
Ich beiße auf meiner Unterlippe herum, in meinem Kopf rattert es.
„Wie gern würde ich das, aber was ist mit...“
„Der soll sich ne eigene Wohnung suchen und sich nie wieder bei mir blicken lassen!“ fällt er mir ins Wort. „Was er getan hat, werde ich ihm nie...“
„Halt, Christopher, so geht das nicht.“
Er schaut mich verblüfft an. „Wie meinst Du das?“

Tief Luft holend gehe ich zum Bett und setze mich auf die Kante.
„Du kannst Sarah nicht einfach den Onkel wegnehmen. Und Du kannst Deinen Bruder auch nicht so einfach aus Deinem Leben verbannen. Ich habe Euch zusammen gesehen. Ihr seid ein eingespieltes Team und das liegt nicht nur daran, dass Ihr Geschäftspartner seid! Du kannst ihn nicht wegschicken.“
Christopher kommt zu mir. „Aber das ist es mir wert, weil ich Dich bei mir haben will. Ich kann ihn ja ausbezahlen, so dass er aus der Firma raus ist.“
Ich schaue in seine braunen Augen. „Nein, das wirst Du nicht tun. Wir werden uns eine Lösung einfallen lassen. Ich hab das Gefühl, Du bist zwar sauer auf ihn...“
„Das darf ich ja wohl auch sein!“ unterbricht er mich.
„Natürlich, aber insgeheim willst Du doch, dass Ihr wieder normal miteinander reden und leben könnt, hab ich recht? Du hast ihm das nicht verziehen – noch nicht, aber Du überlegst, ob Du das vielleicht doch kannst.“
Christopher atmet tief ein und senkt den Kopf. Er denkt nach. „Ich liebe meinen Bruder, das ist richtig, aber… Wenn es wieder passiert… Ich könnte mir das nicht verzeihen! Ich will Dich nicht verlieren!“

Ich nehme ihn in den Arm und für ein paar Minuten verharren wir so.
„Du solltest jetzt zu Sarah gehen, Christopher. Lass uns von den Sorgen nicht das Weihnachten kaputt machen, ok? Wir genießen jetzt ein paar Tage in New Orleans. Nach Toronto muss ich so oder so fliegen, weil dort noch ein paar Sachen von mir sind und ich sowieso auf Nina’s und Marcus’ Rückkehr warten will. Lassen wir es einfach erst einmal ganz weit in unserem Gedächtnis nach hinten schieben, ok?“
Christopher lächelt mich an. „Schlaf gut, Nicky!“ Er küsst mich zum Abschied und ich spüre mehr denn je, wie sehr ich ihn brauche. Wie hatte Nina vor ein paar Tagen zu mir gesagt: ‚Er tut Dir sehr gut.’ Ja, das tut er wirklich.

Am nächsten Morgen treffen wir uns um 10 Uhr und laufen gemeinsam zum Restaurant. Alles ist herrlich dekoriert und wir drei schlagen uns die Mägen voll.
„Daddy, Daddy, wann bekomm ich denn endlich mein Geschenk?“ quengelt Sarah mit vollem Mund.
„Wenn Du artig auf isst. Wir müssen es noch in einem Laden holen, da hat es der Weihnachtsmann abgeliefert, da er ja nicht wusste, in welchem Hotel wir sind.“
Ich muss schmunzeln. „Dein Daddy ist schon gemein, oder? Möchtest Du dann zumindest mein Geschenk für Dich haben?“
Ihre Augen werden riesig – genau wie die von Christopher. „Du hast für sie ein Geschenk? Wann hast Du das denn besorgt oder hattest Du geplant…“
„Das ist doch jetzt egal“, unterbreche ich ihn.
Ich ziehe ein kleines Päckchen aus meiner Tasche und lege es vor Sarah auf den Tisch. Ihre Augen leuchten. Sie schüttelt es ganz vorsichtig.
„Da klappert was ganz leise.“
Ganz penibel knotet sie das Band auf und entfernt das Geschenkpapier – ich bin beeindruckt. Wenn ich da an meine Ungeduld denke… Die Schachtel, die zum Vorschein kommt, ist nicht viel größer als ihre Hand und nachdem sie den Deckel endlich aufbekommen hat, klappt ihre Kinnlade nach unten.
„Daddy, Daddy, ein Eli, ein Eli!“ schreit sie fast. Christopher schaut mich an.
„Du bist verrückt, Nicky!“ Er nimmt mich in den Arm und küsst mich auf die Wange.
Sarah rutscht von ihrem Stuhl und geht zu ihm. Sie stützt sich mit ihren Unterarmen auf seinen Oberschenkel.
„Schau, Daddy, eine Kette mit einem Eli dran.“
„Ja, sehr schön, Schatz. Und was sagt man da?“
Sie schaut zu mir herüber, doch anstatt des erwarteten ‚Danke’ rennt sie um den Tisch und drückt mich, dass mir fast die Luft wegbleibt.
„Daaaaaaaaaaaaaaaaaanke, Nicky!“ quiekt sie vergnügt in mein Ohr.
„Gern geschehen, Süße! Willst Du die Kette gleich ran machen?“
Sarah nickt und Christopher lehnt sich über mich zu ihr, während ich ihre langen Haare nach oben halte. Sie dreht sich um und hält die Hand schützend auf den Anhänger, als sie sich wieder an den Tisch setzt und sich ihren Pancakes widmet.
„Du hast sie wieder einmal sehr glücklich gemacht, Nicky“, flüstert mir Christopher ins Ohr. „Sie mag Dich sehr. Und das bedeutet mir eine Menge.“

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