Kapitel 17

Auf dem Weg zu Christopher’s Haus überlege ich, was Sarah eigentlich bereits weiß. Hat Jacob mit ihr geredet, als er ins Krankenhaus gefahren ist? Oder hat die Kleine Emily mit Fragen gelöchert? Wieviel kann ich ihr sagen, wieviel darf ich ihr sagen? Eine halbe Stunde später werden meine Fragen in einem Satz beantwortet. Sarah rennt aus der Tür, kaum dass ich den Motor ausgeschaltet habe und wirft mich fast um.
„Was ist mit Daddy? Onkel Jacob hat gesagt, Daddy hat Aua.“
Ich lächele sie an. „Ja, Daddy hat Aua, aber er…“ Tja, was sagt man einem Kind in diesem Alter? „Er schläft gerade, weil er sehr müde ist. Ich dachte mir, wir sollten alle gemeinsam warten, bis er wieder aufwacht. Willst Du mit zu Onkel Jacob und Daddy ins Krankenhaus fahren?“
Sie nickt aufgeregt und dreht sich zu Emily um, die schon mit ihrer Jacke in der Tür steht.
 

Danke, Nicky! Es tut mir echt leid, dass ich nicht weiter auf sie aufpassen kann, aber…“
Ich schüttele den Kopf. „Ist schon okay, Emily. Ich denke, es ist besser so. Sie wird Jacob und auch Christopher gut tun.“
Sie schaut mich mit traurigem Blick an. „Sie wissen immer noch nichts?“
Ich senke den Kopf, merke, wie der Kloß in meinem Hals, der nicht mehr zu verschwinden gedenkt, größer und größer wird.
„Nein, aber ich melde mich bei Dir, sobald es Neuigkeiten gibt.“

Eine weitere halbe Stunde später parke ich wieder den Wagen vor dem Krankenhaus. Ich nehme Sarah an die Hand und merke, wie sie mir – obwohl sie eigentlich gar nichts macht – Kraft gibt. Kaum sieht sie ihren Onkel, rennt sie zu ihm und auch Jacob springt auf und kommt ihr entgegen. Er sieht müde aus und als er mir in die Augen sieht, kann ich mehr als noch vor einer Stunde den Kummer darin sehen. Haben die Ärzte etwa schon mit ihm geredet? Ich atme tief ein und gehe auf ihn zu.
„Neuigkeiten?“
Mehr als nicken kann er nicht, denn dann bricht er in Tränen aus.

Jacob hebt Sarah auf ihren Arm und drückt sie, dass ihr fast die Luft wegbleibt. Ich gebe ihm einen Moment Zeit, doch dann will ich endlich wissen, was ist.
„Jacob? Was ist nun?“ In meinem Magen geht es drunter und drüber! „Wie geht’s Christopher?“
Nur mit Mühe kann er sich beruhigen und bringt zwischen seinem Schluchzen mühsam hervor: „Christopher… ist… über den… Berg!“
In diesem Moment kann ich verstehen, warum er vor mir steht und weint – auch von mir fällt jegliche Anspannung ab und ich breche in Tränen aus. Ich glaube, noch nie ist so ein großer Stein von meinem Herzen gefallen wie jetzt. Jacob sieht mir in die Augen und nimmt mich in den Arm.
„Ich bin so froh, dass ich das hier nicht allein durchstehen musste, Nicky!“
Ich lächele ihn an. „Was genau haben denn die Ärzte gesagt?“
Wir setzen uns und Jacob erzählt mir, dass Christopher einige Knochenbrüche hat und eine schwere Gehirnerschütterung, alles in allem aber sehr großes Glück gehabt hat.
„Die Feuerwehr sagte was von nem Wunder, weil das Auto kompletter Schrott ist oder so. Das hat mir die Krankenschwester vorhin erzählt. Ein Typ hat ihm an der Kreuzung die Vorfahrt genommen. Ist ihm ungebremst in die Fahrerseite geknallt.“ erklärt er mir. „Weißt Du, ich glaube nicht, dass es ein Wunder war.“
Irritiert schaue ich ihn an. „Wieso? Glaubst Du nicht an Wunder?“
„Naja, das will ich jetzt nicht sagen, aber ich glaube, er hatte ein Schutzengel… Dich!“
Verlegen schaue ich zur Seite. In diesem Moment schaltet sich Sarah ein, die die ganze Zeit auf der gegenüberliegenden Seite auf den Stühlen saß.
„Willst Du auch mein Schutzengel sein, Nicky?“
Ihre große Augen lassen wieder mal ein ‚Nein’ nicht zu.
„Ich werde für Dich und Deinen Daddy immer da sein, Sarah!“
Die Kleine vergräbt ihren Kopf an meiner Brust, als ich sie in den Arm nehme.

In dieser Minute kommt ein Arzt auf uns zu.
„Mr. Lawson, Sie können jetzt zu ihrem Bruder, wenn Sie möchten. Er schläft, also nur kurz.“
Jacob schaut erst ihn, dann mich und dann wieder ihn an.
„Tut mir leid, Miss. Nur Familieangehörige.“
Ich nicke, denn etwas anderes hatte ich auch nicht erwartet, als Jacob plötzlich sagt: „Sie gehört zur Familie – sie ist die Freundin meines Bruders.“
Hatte ich das eben richtig gehört? Er stellt mich offiziell einem Fremden schon als die Freundin seines Bruders vor? Innerlich werden meine Augen riesengroß, aber ich lasse mir nach außen hin nichts anmerken.
„Und die Kleine ist seine Tochter“, Fügt er noch an.
Der Arzt holt die Luft und zieht die Augenbraue leicht nach oben. „Na schön! Aber wie gesagt – nur kurz!“
Mit einem Lächeln bedanke ich mich bei ihm und nehme Sarah an die Hand. „Sarah, wir gehen jetzt zu Deinem Daddy, aber er schläft immer noch, also müssen wir sehr leise sein. Versprochen?“
Sie schaut mich mit großen Augen an. „Versprochen!“

Christopher liegt zur Beobachtung noch auf der Intensivstation, bis er aufgewacht ist, so dass wir uns desinfizieren müssen, bevor wir zu ihm können. Als die Tür aufgeht, meldet sich der Kloß im Hals wieder – größer als je zuvor. Er war für mich immer der Mann mit den starken Händen, der Ruhe, Wärme und Geborgenheit ausgestrahlt hat. Das, was ich jetzt sehe, bricht mir fast das Herz. Er liegt so hilflos da. In diesem Moment wird mir wieder einmal bewusst, dass ich ihn nie wieder gehen lassen will – dass er die Welt für mich bedeutet. Jacob bietet mir wortlos den Stuhl direkt neben dem Bett an und mit Sarah auf dem Schoß setze ich mich zu Christopher. Jacob selbst geht auf die andere Seite und schaut ihn an. In seinen Augen kann ich sehen, dass auch ihm dieser Anblick sehr nahe geht.
„Darf ich ihn anfassen oder wacht er dann auf?“ reißt mich Sarah aus meinen Gedanken.
Ich lächele sie an. „Natürlich darfst Du!“
Sie beugt sich vorsichtig zu Christopher, stützt sich auf der Matratze des Bettes ab und fährt mit ihren Fingerspitzen über seine Hand. Nie zuvor habe ich ein Kind so vorsichtig agieren sehen. Insgeheim weiß sie, dass ihr Daddy nicht nur einfach so schläft, denke ich mir. Sie ist nicht dumm und mit ihren vier Jahren kann sie mit Sicherheit auch schon einige Dinge verstehen – auch wenn man sie nicht ausspricht. Sarah lehnt sich zurück und nimmt meine Hand. Ohne ein Wort der Erklärung legt die Kleine sie auf Christopher’s Hand.
„Jetzt Du, Onkel Jacob“, flüstert sie und schaut ihn mit großen Augen an.
Er sieht erst sie, dann mich an, aber ich habe keine Ahnung, was sie vorhat – mehr als mit den Achseln zucken kann ich nicht. Jacob umfasst Christopher’s linke Hand. Erst ängstlich, als wäre er zerbrechlich, doch dann kann ich sehen, dass er fester zudrückt. Der Griff eines Bruders, der sich sorgt. Für ein paar Minuten verharren wir so – ein Moment, der so viel Ruhe ausstrahlt, dass wir die Welt um uns herum vergessen.

Erst eine Krankenschwester holt uns zurück in die grausame Realität.
„Es tut mir leid, aber Sie müssen jetzt gehen, Mr. Lawson. Ihr Bruder braucht Ruhe!“ sagt sie leise.
„In Ordnung.“ antwortet er. „Kann ich nochmal mit Dr. Richardson sprechen?“
Sie nickt. „Natürlich. Warten Sie im Flur, ich werde ihn anpiepsen.“
Jacob geht mit ihr nach draußen. „Lass Dir Zeit, Nicky!“ flüstert er in mein Ohr.
Er schließt die Tür und Sarah und ich bleiben noch einen Moment bei Christopher.
„Wann kommt Daddy wieder nach Hause?“
Als könnte Sarah meine Gedanken lesen. „Ich weiß es nicht. Aber bestimmt ganz bald. Na, komm, wir müssen jetzt gehen, damit er in Ruhe weiterschlafen kann.“
Ich hebe die Kleine von meinem Schoß und stehe auf.
„Wenn ich einschlafe, gibt mir Daddy immer einen Kuss auf die Stirn.“ sagt sie und schaut auf Christopher.
Für eine Sekunde überlege ich. „Willst Du ihm auch einen Kuss geben, damit er gut schläft?“
Sie sieht mich mit großen Augen an und nickt aufgeregt. Ich hebe sie hoch und beuge sie über sein Gesicht. Vorsichtig streift sie mit ihren Lippen seine Stirn und ich bin gerührt.

Auf dem Flur spricht Jacob bereits mit dem Arzt. „Vielen Dank, Dr. Richardson.“
„Keine Ursache, Mr. Lawson. Wie gesagt, er hat großes Glück gehabt und in zwei bis drei Wochen kann er auch nach Hause vorausgesetzt, er schont sich.“
Jacob sieht mich an und antwortet ihm dann. „Ich denke, er wird eine gute Krankenschwester zu Hause habe, die sich um ihn kümmert.“
Das herzliche Lächeln des Arztes bringt auch mich zum lächeln.
„Auf Wiedersehen, Mr. Lawson. Miss.“
Ich nicke ihm kurz zu und dann verlassen Jacob, Sarah und ich das Krankenhaus.
„Fährst Du mit Sarah schon mal nach Hause und wartest dort auf mich? Ich hole noch meine Sachen und komme dann nach.“
„Natürlich. Kein Problem.“
Er will gerade ins Auto einsteigen, als mir einfällt, dass ich keinen Schlüssel habe.
„Jacob, warte! Kannst Du mir vielleicht den Hausschlüssel geben, damit wir nicht draußen warten müssen?“
Eilig zückt er seinen Schlüsselbund aus der Tasche und gibt mir den entsprechenden Schlüssel. „Natürlich, hier.“
Wir verabschieden uns und dann fahre ich mit Sarah zu ihr nach Hause.

Als ich den Motor in der Auffahrt abstelle, habe ich für einen kurzen Moment das Gefühl, in mein eigenes Zuhause zu gehen: der Schlüssel in der Hand, mit dem ich ohne viel nachzudenken die Haustür aufschließe. Ich ziehe der Kleinen die Jacke und die Schuhe aus und dann gehen wir zusammen in die Küche.
„Willst Du einen Kakao haben?“ frage ich sie.
Nickend setzt sie sich an den Küchentisch, stützt ihren Kopf auf ihre Hände und schaut mich an, als ich die Milch warm mache.
„Was ist, Schatz?“ schaue ich sie an.
So ein kleines Kind sollte sich nicht mit Sorgen rumschlagen müssen.
„Bleibst Du jetzt für immer bei uns?“
Mich überkommt die Frage wie ein Hammerschlag. „Naja… ich… also…“ Was stottere ich denn so? „Ich werde Dich natürlich besuchen, wenn Du das möchtest.“
Sie schüttelt energisch den Kopf. „Nein, das meine ich nicht. Wirst Du jetzt bei uns wohnen? Du magst doch Daddy, oder?“
Ich setze mich zu ihr. „Ja, ich mag Deinen Daddy, und ich mag Dich und Deinen Onkel. Aber deshalb muss ich doch nicht gleich bei Euch wohnen, oder?“
Mit ihren Fingern fährt sie die Muster der Tischdecke nach, beobachtet mich aber weiterhin aus dem Augenwinkel.
„Aber Mamis wohnen doch bei Daddys!“
Ich sacke zusammen. Hat sie eben ‚Mami’ gesagt? Kann sie mit ihren vier Jahren schon erkennen, was ich für Christopher empfinde, dass es mehr ist, als nur eine normale Freundschaft zwischen zwei Menschen? Ich bin wie vor den Kopf gestoßen. Was soll ich antworten? Ich weiß nicht, was Christopher dazu sagen würde; allerdings will ich auch Sarah weder Hoffnungen machen noch sie enttäuschen. In Gedanken überlege ich, wie ich möglichst heil aus dieser Situation herauskomme.
„Du weißt doch, dass ich nicht Deine Mami bin, oder?“
Ihr Nicken kommt nur sehr zaghaft.
„Und ich kann nicht ohne Deinen Daddy entscheiden, ob ich hier wohnen könnte. Aber ich werde in Toronto bleiben, so dass wir uns immer sehen können, wenn Du das möchtest, ja?“
Ich kann ihre kleinen Rädchen in ihrem Hirn fast schon hören, als sie nachdenkt. Schließlich antwortet sie: „Ich kann ja auch mal Daddy fragen, ob Du bei uns wohnen und ob Du meine Mami werden darfst.“
Ich grinse förmlich bei dem Gedanken daran. Bei diesem Gespräch möchte ich zu gern dabei sein. Plötzlich rieche ich etwas merkwürdiges und ich drehe mich erschrocken um. Die Milch ist bereits gefährlich nahe am Rand des Topfes und ich kann es gerade noch vermeiden, dass sie überkocht und den kompletten Herd einsaut. Sarah lacht herzhaft hinter mir.
„Kakao kochen muss Du aber noch lernen, bevor Du meine Mami wirst.“ Ich kann nicht mehr und pruste los bei diesem frechen Kommentar. In diesem Moment sehe ich durch das Küchenfenster, wie Jacob das Auto parkt und mit einer großen Sporttasche aussteigt.

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