Kapitel 16

Ich entscheide mich, in die Stadt zu fahren und ein bisschen shoppen zu gehen. Als ich damals das Café gesucht hatte, wo ich mich zum ersten Mal mit Christopher getroffen hatte, hatte ich ein paar nette Läden gesehen und darauf habe ich heute so richtig Lust. Ich ziehe mich an und setze mich in den Wagen. Mittlerweile komme ich richtig gut mit dem Verkehr in Toronto zurecht und das Gehupe bringt mich nicht mehr so leicht aus der Fassung. Ich verbringe fast drei Stunden in den Geschäften und werde auch fündig. Mein armes Bankkonto, denke ich mir ab und an. Ach, was soll’s – wenn ich sterbe, nützt mir auch keine Million auf dem Konto. Ich gönne mir zum Abschluss einen Starbucks-Kaffee – eine Droge, von der ich wohl nie loskommen werden, auch wenn es noch so teuer ist. Ich hole mein Handy aus der Tasche, um meine E-Mails zu checken. In Deutschland hatte ich das Ding fast im Minutentakt in der Hand – hier ist es schon eher wie in dem Sprichwort: Aus den Augen, aus dem Sinn. Ich muss lächeln. Als ich auf das Display schaue, sehe ich eine Anruf in Abwesenheit – die Nummer kenne ich nicht, also war es weder Nina, Marcus, noch Christopher oder meine Familie. Keine Nachricht auf der Mailbox bedeutet für mich, dass es wohl nicht so dringend war. Ich denke nicht länger darüber nach und will es gerade wieder in meine Tasche gleiten lassen, als es beginnt zu vibrieren. Die unbekannte Nummer meldet sich erneut.
„Nicky Fischer?“
„Nicky, hier ist Jacob! Nicht auflegen!“
Mein Herz beginnt wie wild zu schlagen, mein Puls schießt in die Höhe.
„Was willst Du?“ frage ich ihn kühl.
„Ist Christopher bei Dir?“
Ich stutze. „Christopher? Nein, schon seit heute Morgen nicht mehr. Er ist gegen 11 Uhr nach Hause gefahren – zumindest hat er das zu mir gesagt.“
„Ah, verstehe. Er hat mir eine SMS geschrieben, dass ich um drei Uhr nach Hause kommen soll, weil er mit mir reden will. Vorher wollte er allerdings noch ein paar Erledigungen machen. Jetzt ist es aber schon kurz vor 4 Uhr und Christopher ist eigentlich immer pünktlich.“
„Vielleicht hat er jemanden getroffen und sich mit ihm verquatscht.“ beruhige ich eher mich als Jacob. „Oder ist anderweitig aufgehalten worden. Es wird schon nichts passiert sein.“
Ich höre, wie er tief ein- und ausatmet.
„Wahrscheinlich hast Du recht. Es ist halt nur… weil wir nicht gerade im Guten auseinander gegangen sind… Wenn jetzt… Naja, also… Ich würde mir…“
„Hör auf, Jacob.“ falle ich ihm ins Wort. „So was darfst Du nicht mal denken! Was soll denn schon passiert sein?!“
„Nicky, können wir vielleicht… also ich meine… können wir auch reden?“
Sämtliche Rädchen rattern in meinem Kopf. Ich habe keinen Nerv, mich jetzt damit auseinander zu setzen und würge ihn ab.
„Ich muss auflegen, Jacob, ich bin etwas im Zeitdruck. Sag mir bescheid, wenn Christopher aufgetaucht ist.“ Und damit beende ich das Telefonat.

Ein bisschen mache ich mir jetzt schon Sorgen um Christopher, aber ich weiß, dass er ein guter Autofahrer ist und ich bin mir sicher, dass ihm einfach nur irgendetwas oder irgendjemand aufgehalten hat. Jacob klang am Telefon so… tja, wie eigentlich? Für einen Moment hatte ich das Gefühl, er zeigt Reue. Aber kann ich ihm vertrauen? Kann ich ihm das abkaufen oder verstellt er sich nur, um es zu einem anderen Zeitpunkt erneut darauf ankommen zu lassen? Während ich nach Hause fahre, gehen mir diese Gedanken nicht aus dem Kopf. Mein Bauchgefühl warnt mich, aber eigentlich möchte ich ihm schon eine Chance geben – allein Christopher wegen. Einfach noch ein paar mal drüber schlafen, denke ich mir. Ich steige gerade aus dem Auto aus, als mein Handy wieder klingelt – Jacob.
„Na, ist Christopher endlich aufgetaucht? Ich hab doch gesagt, dass…“
Plötzlich höre ich, wie er abgehakt atmet und meine Alarmglocken läuten.
„Jacob? Was ist los?“
„Nicky, Christopher… Er…“
„Beruhige Dich bitte, Jacob, und sag mir, was passiert ist! Was ist mit Christopher?“
Eine nicht enden wollende Pause tritt ein – nur ein paar Sekunden, aber für mich fühlt es sich an wie eine Ewigkeit. Jacob hat sich immer noch nicht im Griff und stottert regelrecht.
„Christopher… hatte einen… Autounfall… Er wird… gerade operiert… Ich hab solche Angst! Er… er ist doch… mein großer Bruder! Kannst Du… kannst Du herkommen?“
Meine Brust zieht sich zusammen, in meinem Hals bildet sich ein riesiger Kloß. Ich muss mehrmals schlucken, um nicht los zu schreien.
„Natürlich“, versuche ich so ruhig wie möglich zu antworten. „Wo bist Du?“
„Ich bin… im St. Michael’s. Das ist… in der… Bond Street.“
Jacob weinen zu hören, bringt mich fast um. Auch wenn ich ihm nicht wirklich über den Weg traue, diese Angst in seiner Stimme ist ehrlich.
„Ich bin gleich da!“
Ich lege auf, springe wieder ins Auto und gebe mit zittrigen Händen die Adresse ins Navi.
‚Bitte, lieber Gott, lass mich nicht noch einmal einen geliebten Menschen verlieren!’ bete ich vor mich hin, als ich losfahre. Meine Augen füllen sich mit Tränen, die sich langsam ihren Weg über meine Wangen bahnen.

Der Parkplatz des Krankenhauses ist so gefüllt, dass ich nur mit Mühe eine Lücke finde. Ich fluche, als ich zum vierten Mal ansetzen muss.
‚Konzentrier Dich, Nicky!’ schreie ich mich selbst an.
Auf dem Weg zur Notaufnahme versuche ich, mich ein wenig zu beruhigen. Ich atme tief ein und aus, allerdings wird es nicht wirklich besser. Ich renne förmlich in das Krankenhaus. Am Empfang frage ich nach der entsprechenden Station und gehe zum Aufzug. Wieso kommt dieser beschissene Lift denn nicht? Ich drücke ständig auf den Knopf, als mich von der Seite ein junger Arzt anspricht.
„Davon kommt er leider auch nicht schneller. Sie müssen sich schon etwas gedulden.“
Gedulden? Hat der eben ‚gedulden’ gesagt? Am liebsten würde ich ihm an die Gurgel gehen! Der hat doch keine Ahnung, wie es gerade in mir aussieht: ich habe einen Mann getroffen, der mir alles gibt, was ich brauche und im Moment weiß ich nicht, wie es ihm geht und ob ich ihn überhaupt wieder lebendig vor mir sehen werde. ‚Gedulden’! Ich schüttele den Kopf – Blödmann! Endlich geht die Tür auf und ich fahre nach oben.

Es bricht mir das Herz, als ich Jacob sehe. Er sitzt auf den Stühlen an der Wand des Flurs und hat seinen Kopf in seinen Händen vergraben. An seinem unregelmäßigem Atmen und den Bewegungen seines Oberkörpers kann ich erkennen, dass er noch immer weint. Vorsichtig gehe ich auf ihn zu.
„Jacob?“ Erschrocken schaut er auf.
„Nicky! Ich… bin…“
Mir kommen die Tränen. Jacob so aufgelöst vor mir und meine Angst, Christopher zu verlieren, lassen mich kapitulieren.
„Sag mir bitte, dass es ihm gut geht, Jacob!“
Er schüttelt den Kopf. „Seit über einer Stunde operieren sie. Kein Mensch sagt mir etwas. Alle rennen nur an mir vorbei und kriegen ihre scheiß Fresse nicht auf!“
„Was ist denn eigentlich passiert?“ frage ich ihn mit angsterfülltem Blick.
„Verdammt, ich weiß es nicht, Nicky!“ raunzt er mich an.
Das ist zu viel für mich. Ich weiß, dass er es nicht böse meint, aber die ganze Anspannung fällt mit einem Mal von mir ab und meine Beine versagen. Jacob kann mich gerade noch auffangen und setzt mich auf einen Stuhl.
„Alles in Ordnung?“
Ich will nicken, aber es geht einfach nicht. Ich schluchze und dann bricht alles aus mir heraus.
„Jacob, ich liebe Christopher! Er kann mich nicht verlassen! Nicht jetzt, gerade wo ich ihn gefunden habe! Das ist nicht fair! Christopher ist… Er hat mir all das gegeben, was ich schon ewig nicht mehr von jemandem bekommen habe. Jacob, ich will nicht, dass er…“
Jacob legt mir seinen Finger auf die Lippen und schaut mich mit seinen tränengefüllten Augen an.
„Nicky, Du hast vorhin am Telefon selbst gesagt, dass wir so etwas nicht mal denken sollen. Christopher ist ein zäher Bursche. Ich weiß, dass er es schaffen wird.“
Mein Kopf will ihm glauben, aber in meiner Magengegend geht es drunter und drüber – und meistens konnte ich mich darauf verlassen. Inständig hoffe ich, dass es heute anders ist.

Jacob setzt sich neben mich.
„Nicky? Es ist eigentlich nicht der richtige Zeitpunkt, aber… ich… also… Fuck, ist das schwer! Ich…“ Er holt tief Luft und starrt an die gegenüberliegende Wand. „Es tut mir leid.“
Ich drehe meinen Kopf, so dass ich ihn beobachten kann.
„Es tut mir leid, was ich Dir angetan habe. Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist. Du hattest recht, ich hab mir immer was auf mein Aussehen eingebildet und nie wirklich nachgedacht. Weißt Du, ich hätte bei Christopher besser zwischen den Zeilen lesen sollen. Er hat von Dir gesprochen – jeden Tag – und dabei strahlten seine Augen so. Nach über 40 Jahren sollte man seinen Bruder kennen. Er liebt Dich, Nicky, und ich werde es mir wahrscheinlich nie verzeihen, wenn sich die Beziehung zwischen Euch beiden wegen mir schwierig gestaltet.“
Obwohl er die ganze Zeit an die Wand starrt, kann ich spüren, dass Jacob ausnahmsweise mal ehrlich ist – von tiefstem Herzen ehrlich.
„Jacob, ich…“
„Nein, Nicky, ich bin noch nicht fertig.“
Was kommt jetzt noch, frage ich mich.
„Ich will Dir und Christopher nicht im Weg stehen. Wenn Du das Gefühl hast, Du kannst Dich in meiner Gegenwart wegen all dem Scheiß, den ich gemacht habe, nicht… sagen wir… frei bewegen, dann werde ich daraus meine Konsequenzen ziehen.“
Mit meinen Fingerspitzen will ich seinen Kopf zu mir drehen, aber er wehrt sich dagegen. Ich hocke mich vor ihn und zwinge ihn, mich anzusehen.
„Was meinst Du mit Konsequenzen, Jacob?“ Er will meinem Blick ausweichen, aber ich hindere ihn daran, indem ich seinen Kopf mit meinen Händen festhalte. „Was meinst Du damit?“
Er schaut mich mit seinen blauen Augen eindringlich an.
„Ich will Euch nicht im Weg stehen und deshalb werde ich… ich werde ausziehen und mir eine eigene Wohnung suchen.“
Ich sehe, wie er mit den Tränen ringt und nehme seine Hände in meine.
„Jacob, ich wollte nie zwischen Dir und Deinem Bruder stehen. Und ich will nicht, dass Du wegen mir ausziehst. Christopher und ich haben in New Orleans beschlossen, mit Dir über das, was Du getan hast, zu reden, weil wir beide wollen, dass Du Dich nicht ausgeschlossen fühlst. Du bist nun mal Christopher’s Bruder, Sarah’s Onkel… Ich bin diejenige, die in Eure bestehende Familie eindringt und ich will Dich auf keinen Fall verdrängen. Ich weiß, dass Deine Entschuldigung ernst gemeint war und ich denke, dass wir einfach noch mal von vorne anfangen sollten. Meinst Du nicht?“

Plötzlich fällt mir auf, dass Sarah nicht da ist. „Wo ist eigentlich Sarah?“
Jacob’s Blick wird mit einem Mal aufgeregt. „Fuck, die hab ich total vergessen. Emily ist bei ihr geblieben, aber ich wollte mich bei ihr melden. Ich werd sie gleich anrufen.“
„Nein, nein, lass mal. Ich ruf bei Euch zu Hause an.“
Ich will gerade aufstehen und gehen, als Jacob mich am Arm festhält.
„Nicky, Du bist toll! Seit Jessica’s Unfall habe ich ihn nicht mehr so gesehen. Du tust ihm sehr gut. Danke, dass Du meinen Bruder glücklich machst.“
In meinem Hals bildet sich ein Kloß – ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll und lächele ihn einfach nur nickend an.

„Hallo Emily, hier ist Nicky, die… die Bekannte von Christopher.“
Ich bin nach draußen gegangen, um mit dem Handy telefonieren zu können.
„Oh, hallo. Wie geht’s Christopher?“
Ich höre, wie auch sie sich Sorgen um ihn macht.
„Ich weiß es nicht. Sie operieren immer noch und man sagt uns nichts. Keine Ahnung, wie lange es noch dauert, bis wir überhaupt mal ein Update bekommen.“
„Ähm, Nicky, ist Jacob in Ihrer Nähe?“
„Ich bin vor dem Krankenhaus, Jacob wartet drinnen auf ein Zeichen. Wieso?“
„Es ist mir total unangenehm, aber… heute Abend… Ich…“
Mir dämmert es. „Du hast etwas vor, oder?“
„Ja, leider. Die Sache ist, dass ich nicht absagen kann, weil ich mich um die Organisation kümmern muss. Ich könnte Emily aber mit zu mir nach Hause nehmen. Meine Mum kümmert…“
Ich falle ihr ins Wort. „Nein, nein, das muss nicht sein. Ich werde in einer halben Stunde kommen und Sarah abholen.“
„Ist das auch wirklich okay für Sie? Ich meine, Sie haben ja jetzt… also ich meine…“
Emily ist mir sympathisch – jetzt mehr denn je. „Ich denke, es ist ganz gut, wenn Sarah bei uns ist. Also ich bin in 30 Minuten da.“

Ich lege auf und schicke Jacob eine SMS. „Emily hat heute Abend etwas vor. Ich werde Sarah bei Euch zu Hause abholen und dann wiederkommen. Ich beeil mich. Nicky“
Keine fünf Minuten kommt eine Antwort: „Danke Dir! Und bitte fahr vorsichtig!“

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