Kapitel 10

Der Nachmittag verläuft wunderschön. Als die Geschenke an Sarah übergeben werden, ist sie natürlich völlig gespannt, ob ich ihren Wunsch erfüllt habe. Ich helfe ihr mit der Verpackung und dann werden ihre Augen ganz groß.
„Daddy, Daddy, Nicky hat mir sogar zwei Lampen geschenkt und beide mit Elis.“
Christopher lächelt sie an und dann wandert sein Blick zu mir. Du hast sie sehr glücklich gemacht. Sie mag Dich wirklich sehr, sagen mir seine Augen.
„Ok, Schatz, ihr dürft jetzt noch eine Weile draußen im Schnee spielen, bis ich Deine Torte geholt habe, ok?“ Er kann den Satz gar nicht zu Ende sprechen – in Windeseile werfen sich die Kleinen ihre Jacken über und rennen aus der Terrassentür.
„Nicky, ich fahre schnell zur Konditorei, wo ich Sarah’s Geburtstagskuchen bestellt habe. In ner halben Stunde bin ich wieder da. Kommst Du mit den Kids klar? Naja, Jacob ist ja auch noch hier.“
Mein Puls beginnt zu rasen. Was soll ich ihm jetzt sagen? Ich versuche mich zu beruhigen. 15 Kinder sind um uns rum, die 30 Minuten werde ich schon überstehen.
„Ja, klar. Mach Dir keine Sorgen. Zur Not kette ich sie an die Heizung, bis Du wieder da bist.“
Christopher lacht. „Dann bis gleich. Jacob?“ ruft er in die Küche. „Ich hole jetzt Sarah’s Torte. In ner halben Stunde bin ich wieder da.“ und schon ist er aus der Tür.
Ich atme tief ein und aus. Bleib in der Küche, Jacob, bleib in der…

„Na?“ Mein Körper versteift sich, als er ins Wohnzimmer kommt und sich an die Wand lehnt. „Endlich mal ungestört.“
„15 Kinder im Garten und das nennst Du ungestört?“ setzte ich ihm kühl entgegen.
„Ach, die sind ne Weile im Schnee beschäftigt. Die halbe Stunde könnte man gut ausnutzen.“
Sein Grinsen bringt mich aus der Fassung.
„Ähm, Jacob, wir sollten die halbe Stunde nutzen, um den Tisch zu decken und Kakao zu machen.“
Er kommt langsam auf mich zu, aber ich kann nicht weg. Die Couch versperrt mir den Weg. Seine Hand legt sich um mein Handgelenk und ich fühle seinen fordernden Griff. Ich versuche, ihn abzuschütteln, aber gegen ihn bin ich machtlos. Er zieht mich in die Küche.
„Ich will Dir doch nur was zeigen. Was machst Du denn für ein Drama?!“
Mein Hirn dreht völlig durch. Reagiere ich über, hat er aus meiner Abwehr am Samstag gelernt und lässt mich in Ruhe, will er mir wirklich nur was zeigen? Ich gebe ihm eine Chance und folge ihm. Seine Hand lässt mein Gelenk trotzdem nicht los. Kaum sind wir in der Küche und außer Sichtweite der Kinder, dreht er meinen Arm nach hinten, so dass er mich umarmen kann, aber trotzdem nicht loslassen muss.
„Jacob, was hast Du am Samstag nicht kapiert? Ich stehe nicht auf Dich und daran wird sich auch nie etwas ändern!“
„Das hat schon so manche Frau zu mir gesagt, bis ich sie vom Gegenteil überzeugen konnte.“ Er schaut auf seine Uhr. „Wir haben 20 Minuten. Glaub mir, in der Zeit hab ich Dich dreimal zum Höhepunkt gebracht.“
Allein bei der Vorstellung mit ihm Sex zu haben, wird mir übel. Er ist ein hübscher Mann, das mag ja sein, aber seit seinem ersten Annäherungsversuch ist er bei mir unten durch.
„Lass mich los, Jacob!“ fauche ich ihn an, aber anscheinend törnt ihn dies nur noch mehr an.
Er presst mich gegen die Arbeitsplatte und drückt mich leicht nach hinten. Seine Beine drücken sich fest an meinen Körper – mein Knie kann ich dadurch heute nicht mehr zum Einsatz bringen. Ich bin völlig gefangen, kann mich kaum noch bewegen und er kommt immer näher. Er beginnt, meinen Halsansatz zu küssen. Ich versuche, mich dagegen zu wehren, nur wie? Seine Zunge gleitet hinauf zu meinem Ohrläppchen, dann arbeitet er sich zu meinem Gesicht und fährt mir über meine Lippen.
„Hör auf, Jacob, hör sofo…“
Ich kann den Satz nicht beenden, denn genau das nutzt er schamlos aus. Seine Zunge bahnt sich den Weg in meinen Mund. Mein letzter Ausweg ist, meinen Kopf noch weiter nach hinten zu werfen. Ich höre es knacken – eindeutig nicht gut für die Gesundheit, aber immer noch besser als dieser Kuss. Jacob hat mittlerweile meine beiden Arme hinter meinen Rücken gedreht und hält sie mit einer Hand fest. Mit der anderen fängt er an, über meine Brüste zu streicheln und mit Hilfe seines Beines spreizt er mit aller Kraft meine Beine. In Windeseile macht er sich an meinem Gürtel zu schaffen und dann hat er auch den Knopf bereits geöffnet. In meine Augen schießen Tränen.
„Ich will das nicht, Jacob, hör auf, verdammt nochmal, hör auf damit!“
„Was machst Du nur für Zicken, Nicky. Die Frauen stehen doch auf Quickies und Du bist mit Sicherheit keine Ausnahme.“
Ich schließe die Augen, wimmere wie ein kleines Kind und versuche weiterhin, mich aus dieser Situation zu befreien. Immer und immer wieder bitte ich ihn aufzuhören. Seine Hand ist kurz davor, in meinen Slip zu gleiten, als ich Christopher’s Stimme höre.

„Was zum…! Jacob, lass sie sofort los!“
Ich spüre, wie sich der Griff um meine Handgelenke augenblicklich lockert und öffne die Augen. Christopher lässt Jacob nicht aus den Augen, als dieser auf ihn zugeht.
„Jetzt mach hier mal nicht so ein Drama, Bruderherz. Sie ist doch schließlich nicht Deine Freundin. Das hast Du selbst zu mir gesagt. Ihr seid nur Freunde.“
Ich sehe, wie die Adern an Christopher’s Hals hervortreten und von einer Sekunde auf die andere hat Jacob eine Faust im Gesicht.
„Das gibt Dir noch lange nicht das recht, Dich an ihr zu vergreifen, Du… Du…“
Anstatt ihm ein Schimpfwort an den Kopf zu werfen, lässt er lieber nochmal seine Fäuste sprechen – diesmal direkt in seine Magengegend. Jacob windet sich vor Schmerz.
„Ach so ist das, Du hättest es nicht ertragen, wenn ich sie als erstes gefickt hätte. So wie damals bei Jessica.“
Ich verstehe nicht, von wem Jacob spricht, aber es muss Christopher tief getroffen haben. Er packt ihn am Shirt, zwingt ihn dadurch sich aufzurichten und setzt ein weiteres Mal an, aber diesmal gehe ich dazwischen.
„Hört auf! Hier sind Kinder im Haus. Nicht hier und nicht jetzt!“
Christopher holt tief Luft.
„Verschwinde, Jacob. Sofort!“
Sein Ton und seine funkelnden Augen lassen keine Widerrede zu – Jacob fügt sich. Die braunen Augen von Christopher, die immer Wärme ausgestrahlt haben, sind jetzt mit Hass erfüllt. Er folgt seinem Bruder bis in den Flur, wo er ihm noch etwas an den Kopf wirft, aber ich kann ihn nicht verstehen. In meinem Hirn hämmert es.

Erst jetzt bemerke ich, dass meine Kleidung noch total zerzaust ist. Ich richte alles und plötzlich versagen meine Beine. Ich sinke am Kühlschrank zu Boden. Ich kann nicht weinen, ich bin einfach nur… leer! Ich ziehe meine Knie an meinen Körper, umfasse sie mit meinen Armen und blicke in die Ferne.
„Nicky, wo bist Du, Nicky?“ höre ich, aber ich kann nicht antworten. „Nicky, wo… Oh mein Gott, hier bist Du!“
Als ich nicht reagiere, hockt er sich neben mich und dreht mein Gesicht, so dass ich ihn anschauen kann. Seine Augen sind mit Traurigkeit gefüllt. Sein Blick sagt ‚Entschuldigung’ und das gibt mir den Rest – ich beginne zu weinen, lasse alles raus. Christopher setzt sich neben mich und nimmt mich in den Arm.
„Es tut mir so leid. Ich hätte nie gedacht, dass er einer Frau gegenüber so grob sein kann. Und dass er mir das nochmal antun würde.“
Ich hebe meinen Kopf und schaue ihn fragend an.
„Bevor ich mit Jessica zusammen kam, hatten wir einfach nur ein gutes freundschaftliches Verhältnis.“
„So wie wir?“ unterbreche ich ihn.
„Nein, ich denke, wir sind darüber schon hinaus.“ lächelt er mich an. „Jessica war einfach nur eine tolle Freundin, mit der ich Pferde stehlen konnte. Irgendwann kam dann aber der Moment, wo wir beide mehr empfunden habe. Ich hatte es bei mir etwas eher gemerkt, aber war zu feige, es ihr gleich zu sagen. Ich wollte unsere Freundschaft nicht auf’s Spiel setzen. Naja, ich will nicht ins Detail gehen. Jacob hat sie auf einer Party verführt. Alkohol, viel Spaß… Ich war total sauer auf ihn, wir hatten eine ziemliche Auseinandersetzung deswegen. Er konnte es sich natürlich nicht nehmen und hat vor mir damit geprahlt. Er wusste ja nichts von meinen Gefühlen. Danach ist Jessica dann allerdings bewusst geworden, dass Jacob für sie ein reiner Ausrutscher war und nach ein paar Wochen sagte sie mir, dass sie mich liebt. Tja, und am Ende haben wir dann geheiratet und unsere Zukunft geplant. Hätte ich doch Jacob gleich die Wahrheit über Dich…“
Er stockt und ich mustere ihn.
„Was für eine Wahrheit?“

Noch bevor er antworten kann, hören wir die Kinder ins Haus rennen. Ich schlucke, wische mir die Tränen aus dem Gesicht und Christopher hilft mir beim Aufstehen.
„Ich hab im Bad ein paar Tropfen für trockene Augen. Nimm die, dann sieht man nicht, dass Du geweint hast.“
„Nein, Christopher, ich werde jetzt gehen.“
Er reißt die Augen auf. „Nein, Nicky, ich… Bitte bleib hier. Sarah wäre sicher enttäuscht, wenn Du nicht noch mit uns Kuchen ist.“
Ich hole tief Luft. „Ich denke, Dir wird mit Sicherheit eine Entschuldigung für mich einfallen. Ich muss hier raus.“
Noch bevor er etwas erwidern kann, bin ich auch schon mit Sack und Pack aus der Tür. Ich atme die frische Luft ein, setze mich ins Auto und lasse den Motor an.

Auf dem Weg nach Hause kommen mir die Tränen – ich kann mich einfach nicht beruhigen. Ja, ich habe mich Hals über Kopf in Christopher verliebt, ich möchte am liebsten jede Minute mit ihm und Sarah verbringen. Aber es geht nicht, das wird mir jetzt vollends bewusst.

Zuhause angekommen setze ich mich vor den Laptop und buche einen Flug für morgen Mittag. Das Ziel ist mir im Moment gerade egal – ich schaue eher nach dem Preis. New Orleans, Hin- und Rückflug für 300 Dollar. Die Stadt war zwar nicht auf meiner ursprünglichen Reiseroute vorgesehen, aber Hauptsache weg. Weg von Christopher, weg von Sarah, und vor allem weg von Jacob. Christopher und ich waren offiziell ja gar nicht zusammen – ‚Ihr seid nur Freunde’ hatte Jacob gesagt. Je schneller ich einen Schlussstrich ziehe, desto schneller bin ich über ihn hinweg. Hoffentlich! Beim Eingeben der Daten stocke ich: Rückflugdatum? Zurückkommen muss ich, geht es mir durch den Kopf. Allein wegen Nina, Marcus und Mathilda.

Nachdem ich die Flugbestätigung ausgedruckt und auch noch ein günstiges Hotelzimmer ergattert habe, gehe ich nach oben und packe meine Sachen. Dann setze ich mich an Marcus’ Schreibtisch. Ich will nicht sang und klanglos aus Christopher’s Leben verschwinden. Aus einem geplanten einseitigen Brief wird ein halber Roman. Zum ersten Mal rede ich offen über meine Gefühle – auch wenn ich es nur auf ein Blatt Papier schreibe. Ich hadere, ob ich ihm gegenüber völlig ehrlich sein soll, was seinen Bruder betrifft, aber im Endeffekt würde es sowieso keinen Unterschied mehr machen. Also schreibe ich auch das nieder, was mir nicht leicht fällt. Mein letzter Satz treibt mir Tränen in die Augen. 


„Du hast mir gezeigt, dass es die wahre Liebe doch noch gibt und dafür bin ich Dir unendlich dankbar. Unter anderen Umständen hätte es vielleicht mit uns beiden geklappt, aber es hat nicht sollen sein. Ich hoffe, Du kannst mir verzeihen, dass ich so heimlich aus Deinem Leben verschwinde!“ 

Bis spät in die Nacht schreibe ich an Christopher’s Brief. Mittlerweile ist es halb zwei Uhr in der Früh. Ich ziehe mir eine Jacke über und fahre zu Christopher’s Haus. Jegliche Lichter sind gelöscht. Langsam laufe ich die Auffahrt nach oben. Wie gern würde ich hier ohne Nervosität entlang laufen, aber selbst jetzt steigt die Angst in mir auf, Jacob könnte meine Weg kreuzen. Vor dem Briefkasten bleibe ich stehen und schaue auf den Brief in meiner Hand. Eine einzelne Träne bahnt sich ihren Weg über meine Wange und bevor ich sie wegwischen kann, ist sie auf dem Umschlag gelandet. Ich hole noch einmal tief Luft, werfe den Brief ein und fahre zurück nach Hause.

Am nächsten Morgen rufe ich mir für halb zehn Uhr ein Taxi. Ich überprüfe noch einmal alle Türen und Fenster und lasse mich dann zum Flughafen bringen. Nachdem ich eingecheckt habe, gehe ich durch die Sicherheitskontrollen und versuche, die Zeit bis zum Abflug in den Geschäften zu überbrücken, doch in Gedanken bin ich immer bei Christopher. War es richtig, einfach so zu verschwinden? Hätte ich nochmal mit ihm über alles reden sollen? Hätten wir eine Lösung gefunden? Plötzlich spüre ich ein Vibrieren in meiner Tasche: mein Handy. Ich krame, doch ich kann es nicht gleich finden und als ich es endlich in der Hand halte, hat der Anrufer aufgelegt. Ich schaue auf’s Display: Christopher. Und bereits zum dritten Mal stelle ich fest. Es dauert nicht lang und er schickt eine SMS.
„Nicky, bitte melde Dich. Ich habe Deinen Brief gelesen. Ich will nicht, dass Du gehst. Bitte, lass mich nicht allein!“
Es versetzt mir einen Stich. Mein Flug wird aufgerufen, was mir die Überlegung, ihm zu antworten oder nicht, erspart.

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