Kapitel 4

Und dann passiert es: Christopher überbrückt die wenigen Zentimeter zwischen uns und küsst mich. Ganz zaghaft, vorsichtig, als wäre er sich selbst nicht sicher, ob es das richtige ist. Noch immer kann ich mich nicht bewegen. Obwohl ich irgendwie damit gerechnet hatte, lähmt es mich jetzt vollends. Nach einer gefühlten Ewigkeit zieht er sich zurück und schaut mich an. Seine Augen sagen mir… Ja, was sagen sie mir eigentlich? Ich sehe darin so viel auf einmal: Angst, Ratlosigkeit, Wärme. Ich habe das Gefühl, er ist in dem gleichen Dilemma wie ich gefangen. War das ein Fehler oder sollte man einfach auch mal etwas wagen? Ich lächle ihn an und er erwidert es. Wir sprechen kein Wort und nur durch ein Kopfnicken geben wir uns zu verstehen, dass wir weiterfahren sollten, um Nina, Marcus und die Kinder wieder einzuholen.

Es dauert auch nicht lang, bis wir sie am Rand stehen sehen.
„Musstest Du erst zur Bank um zu zahlen, Christopher?“ neckt ihn Marcus. „Ihr habt ja ewig gebraucht!“
„Ich bin die Schuldige!“ nehme ich Christopher in Schutz. „Ich hab mal wieder den Kampf gegen das Eis verloren!“
Nina mustert mich. „Aber diesmal ist nix passiert, oder?“
Ich schüttele den Kopf. „Außer 'nen blauen Fleck an meinem Allerwertesten wird wohl nichts zurückbleiben.“

Wir fahren noch etwa eine Stunde auf dem Fluss, als sich Sarah bemerkbar macht. Sie friert und auch Mathilda fängt langsam an zu quengeln. Wir entschließen uns, an der nächsten Treppe die Schuhe zu wechseln und mit der Bahn zurück zu den Autos zu fahren. Seit dem Kuss vermeiden es Christopher und ich, uns näher als nötig zu kommen. Beide müssen wir mit dem Geschehenen erstmal zurecht kommen. Auf dem Weg zum Parkplatz hören die Mädchen nicht auf, wie wild zu plappern und dann kommt plötzlich von Mathilda die Frage:
„Darf uns Sarah mal besuchen?“
„Aber sicher doch, mein Schatz.“ erwidert Nina und streichelt ihr über’s Haar. „Wenn Sarah’s Daddy es erlaubt, dann laden wir die beiden mal ein und wenn sie möchten, dürfen sie sogar noch mit uns Abend essen.“
Mathilda und Sarah strahlen über’s ganze Gesicht, aber ich spüre Christopher’s Blick auf mir ruhen und ich weiß genau, was er denkt. Mir ist bei dieser Vorstellung auch nicht gerade wohl zumute.
„Aber nur, wenn’s Euch absolut nichts ausmacht! Ich kann auch Sarah nur mal für 'nen Nachmittag bei Euch abliefern und sie am frühen Abend wieder abholen.“
Marcus geht dazwischen. „Jetzt red mal keinen Schwachsinn. Ist ja nicht so, dass Du nur fünf Minuten zu uns brauchst. Das wär' doch total umständlich für Dich! Wir können ja dann auch nochmal in Ruhe über die Häuser sprechen.“
Christopher nickt. Als wir uns verabschieden, sind wir bereits für nächsten Samstag verabredet.
„Also sehen wir uns dann alle nächste Woche wieder. Ich freu mich!“
Bei den letzten Worten schaut er mich an und die verschiedenen Gefühle, die ich noch vor einer guten Stunde gesehen hatte, hatten sich in ein einziges verwandelt: Zuversicht. Das Braun seiner Augen funkelte und sein Lächeln lässt mich leicht erzittern.

In der kommenden Woche unternehmen wir eine Menge in Toronto und Umgebung. Ich genieße es, mit Marcus und seiner Familie die Gegend zu erkunden, aber trotz der Ablenkung geht mir Christopher nicht aus dem Kopf. Abends liege ich immer grübelnd im Bett. Das kann doch nichts werden, was mache ich bloß, ich verrenne mich da komplett in was! Aber diese Augen, diese Stimme, einfach alles an ihm fasziniert mich.

Am Donnerstag ist die erste Hausbesichtigung von Nina und Marcus.
„Du musst mitkommen, ich will Deine Meinung hören!“ redet sie auf mich ein und ich merke, dass es nicht mehr nur eine Bitte ist – es klingt eher schon wie ein Befehl.
Aber ich muss gestehen, dass auch ich auf die Schmuckstücke, wie Christopher sie betitelt hat, neugierig bin. Ich packe Mathilda dick ein, während Marcus die Autoscheiben frei kratzt und dann geht es auch schon los. Wir fahren fast eine Stunde Richtung Mississauga, dann geht es laut Navi in ein kleines Wohngebiet kurz vor der Stadtgrenze und als die ersten Häuser zwischen den Bäumen auftauchen, staunen wir nicht schlecht! Sie sind einfach nur… bezaubernd! Alle Gebäude sind unterschiedlich und doch sind sie aufeinander abgestimmt und passen perfekt zueinander. Schon von weitem sehen wir Christopher’s Wagen und parken direkt dahinter. Kaum sind wir ausgestiegen, öffnet sich auch schon eine Eingangstür und Christopher steht vor uns. In meinem Magen geht es drunter und drüber. Mir war nicht bewusst, dass diese Besichtigung – auch wenn sie unter Freunden stattfand – sein Beruf ist, was auch mit einer Berufskleidung verbunden war. Ich kannte ihn nur in Jeans, Pullover und dicker Winterjacke. Jetzt allerdings trat er vor mich in einem schwarzen einfachen, aber doch sehr eleganten Anzug. Ruhig bleiben, Nicky, ganz ruhig bleiben!

„Schön, dass ihr da seid. Ich hoffe, ich habe Euren Geschmack getroffen.“
Seine Augen wandern von Nina zu Marcus und bleiben dann an mir heften. Ich habe Mühe, seinem Blick Stand zu halten.
„Also die Gegend ist schon mal der Hammer!“ quiekt Nina förmlich.
„Also wirklich professionell ist das aber nicht, was Du da machst, Schatz!“ kneift Marcus sie in die Seite. „Wie soll ich jetzt mit Christopher wegen dem Preis verhandeln, wenn Du Dein Interesse schon so offenkundig bekannt gibst?“
Wir lachen und dann bittet uns Christopher ins Haus. Ich folge den dreien während der Besichtigung in einigem Abstand – schließlich ist es trotz allem ein geschäftliches Gespräch, bei dem ich nicht die Entscheidung treffen soll sondern sie. Mathilda ist nach einer Weile langweilig und ich gehe mit ihr nach draußen, wo wir eher ungewollt eine Schneeballschlacht beginnen. Sie ist trotz ihren fünf Jahren verdammt gut im Zielen – mich würde es nicht wundern, wenn ihr Daddy da etwas Mitschuld trägt. Mein Schneeball bahnt sich gerade den Weg über den Vorgarten zu Mathilda, als sie in Deckung geht und der Ball geradewegs auf Christopher trifft, der eben aus der Tür getreten war. Ich bekomme sofort ein schlechtes Gewissen, renne auf ihn zu und entschuldige mich tausend Mal, während ich ihm den Schnee vom Anzug putze.
„Ist schon okay, Nicky. Ich glaube, jetzt sind wir quitt, oder?“ lächelt er mich an. „Mathilda, Deine Eltern möchten gern, dass Du zu ihnen ins Haus kommst.“ sagt er und geht schnell aus dem Türrahmen, da sie schon wie ein Wirbelwind Anlauf nimmt, hineinzustürmen.

Seine Augen haften noch immer auf mir – sogar, als er mit Mathilda gesprochen hat, hat er mich aus den Augenwinkeln beobachtet.
„Ich bin so froh, dass Du zur Besichtigung mitgekommen bist. Ich muss gestehen, dass ich öfters an Dich denken musste… und auch an das, was auf dem Eis passiert ist.“
Bei dem Gedanken daran senke ich meinen Kopf – ich will nicht, dass er die Verwirrung in meinen Augen sieht. Denn genau dieser letzte Satz lag auch mir auf den Lippen.
„Nicky?“
Christopher hebt mit seinem Zeigefinger mein Kinn an. Plötzlich sind wir uns wieder so nah wie am Sonntag. Für einen Moment halte ich den Atem an und dann tue ich etwas, was ich am allerwenigsten von mir erwartet hätte: diesmal ergreife ich die Initiative und küsse ihn.

Christopher’s Hände ergreifen meine Oberarme und er zieht mich fest an sich. Mein Herz rast, denn ich fühle ihn so nah wie noch nie. Er greift um meine Taille, umarmt mich komplett und seine rechte Hand wandert hinauf zu meinem Nacken. Er fährt mir durch den Haaransatz und presst meinen Kopf dadurch nur noch näher an seinen – wenn das überhaupt noch möglich ist. Ich habe das Gefühl, er will mich nie wieder loslassen. Doch dieser Gedanke macht mir plötzlich Angst. Mein Kopf gewinnt ein weiteres Mal den Kampf mit meinem Bauch. Ich winde mich aus seiner Umarmung. Seine großen Augen mustern mich.
„Alles in Ordnung, Nicky?“
Ich nicke, drehe mich auf dem Absatz um und renne förmlich ins Haus. Ich suche das Bad – ich muss mich sammeln.

Als die Tür ins Schloss fällt, lehne ich mich dagegen. Wieso kann ich das nicht? Was hält mich davon ab? Er scheint mich nicht nur als ein Abenteuer zu sehen, sonst würde er anders reagieren. Tausend Fragen schießen mir durch das Hirn. Ich gehe zum Waschbecken und spritze mir Wasser ins Gesicht. Erst jetzt bemerke ich im Spiegel, dass meine Augen glänzen – Tränen beginnen sich den Weg nach außen zu bahnen.
„Nicky, Du bist so bescheuert!“ raunze ich mein Spiegelbild an. „Er ist fantastisch, das wusstest Du von dem Moment, als Du ihm das erste Mal gegenüber standest. Wieso sträubst Du Dich dagegen?“
Und plötzlich habe ich das Gefühl, mein Gegenüber antwortet mir.
„Lass Tom endlich hinter Dir und gib Christopher eine Chance. Er kann nichts für Deine Vergangenheit.“
Ich schlucke und nicke. Hab ich mich eben echt mit mir selbst unterhalten? Ich muss schmunzeln, als ich die Tür öffne.

Christopher steht im Wohnzimmer und blättert in seinen Unterlagen. Ich höre Nina, Marcus und Mathilda im Garten hinter dem Haus. Als er mich bemerkt, dreht er sich um und sein ängstlicher Blick versetzt mir einen Stich.
„Nicky, es tut mir leid, wenn ich etwas getan habe, was…“
„Nein, keine Entschuldigung. Ich habe einen Fehler gemacht.“
Sein Augen verengen sich zu zwei Schlitzen. „Einen Fehler? Verstehe.“
Er widmet sich wieder seinen Unterlagen und mir wird klar, wie er es verstanden hat – falsch!
„Christopher, nein, das… Ich hab das anders gemeint!“ Meine Stimme überschlägt sich fast. Ich ergreife seinen Arm und zwinge ihn so, mich anzusehen. „Mit Fehler meinte ich mich. Nein, wieder falsch. Mein Fehler war…“
Wieso bekomm ich diesen Satz einfach nicht so zustande, wie ich es will, damit Christopher es richtig versteht.
„Dein Fehler war, dass Du mich geküsst hast. Ich weiß, das hab ich verstanden!“
„Fuck, nein!“ schreie ich jetzt fast schon. „Mein Fehler war, dass ich aufgehört habe, Dich zu küssen.“
Wie versteinert stehen wir beide voreinander. In seinen Augen sehe ich die Frage, die ich mir gerade in meinem Kopf stelle: Habe ich das eben wirklich laut gesagt? In diesem Moment kommen die drei aus dem Garten zurück. Anscheinend haben sie nichts von unserem Gespräch mitbekommen, denn Nina beginnt sofort, auf Christopher einzureden. Marcus steht nur Kopf schütteln hinter ihr und grinst. Mathilda rennt auf mich zu.
„Tante Nicky, wir können bald öfters hier ne Schneeballschlacht machen. Mommy und Daddy wollen hier bleiben.“ Ihr Gesicht strahlt bei diesen Worten.
„Und Du? Willst Du auch hier bleiben?“ Sie nickt.
„Komm mit, ich zeig Dir mein Zimmer.“
„Du hast schon ein eigenes Zimmer?“ schaue ich sie mit großen Augen an und dann zieht sie mich auch schon die Treppe nach oben.

Nach einer Weile kommt Marcus in Mathilda’s neues Schlafgemach.
„Na, hat Dir Mathilda schon erklärt, wo sie alles hinstellen will?“
Ich nicke lächelnd, doch eigentlich bin ich ganz woanders. Er kommt zu mir ans Fenster und sieht mich prüfend an.
„Nicky, Deine Falten auf Deiner Stirn verraten Dich. Was ist los?“
„Ich habe Christopher geküsst.“
„Du hast ihn geküsst? Seit wann ist denn meine Nicky eine Draufgängerin?“
Mir ist alles andere als zum lachen zumute. „Das ist nicht witzig, Mac! Ich weiß nicht, was mit mir los ist.“
„Soll ich Dir sagen, was mit Dir los ist? Du bist verliebt und das ist gut so. Seit diesem… seit fast zwei Jahren habe ich nicht mehr so ein Strahlen in Deinen Augen gesehen. Auch, wenn Du es vielleicht noch nicht akzeptieren willst, ich hab es sofort gemerkt.“
„Was heißt denn ‚sofort’?“
„Als Nina heute morgen vorgeschlagen hat, dass Du zu den Besichtigungen mitkommen sollst. Du hättest mal Deine Augen sehen sollen!“ Er kneift mich in die Seite.
„Ist das so offensichtlich?“ sage ich leicht verwirrt.
„Nein, ich denke, Nina hat es noch nicht gemerkt und falls Du wegen Christopher fragst: der erst recht nicht. Geschwister sehen so was immer als erstes.“
Er nimmt mich in den Arm und wir beide müssen lächeln.

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