Kapitel 18

Wir beschließen, uns eine Pizza kommen zu lassen, da wir alle heute noch kaum etwas gegessen haben. Während Jacob und ich in der Küche warten, vergnügt sich Sarah in der Spielecke im Wohnzimmer. Nur 20 Minuten später sitzen wir am Esstisch und lassen es uns schmecken. Plötzlich fragt Sarah Jacob mit vollem Mund: „Kann Nicky bei uns wohnen?“
Wir beiden schauen uns an – mit aufgerissenen Augen und ich verschlucke mich dabei, so dass ich loshusten muss.
„Das… also… Wir haben doch gar keinen Platz, Schatz! Und Du weißt doch, dass wir immer alles zu dritt machen. Solange Dein Daddy nicht dabei ist, werden wir zwei nichts entscheiden. Okay?“
Sie grummelt etwas vor sich hin, was ich aber nicht verstehen kann.
Jacob mustert mich von der Seite. „Geht’s wieder?“ fragt er mich, als sich mein Husten endlich beruhigt hat.
Ich nicke nervös. „Ja, danke!“
Seine Augen dringen wieder mal tief in meine Seele und ich hasse das, allerdings sagt er nichts und ich konzentriere mich auf meine Pizza.

Nach dem Essen geht Jacob mit der Kleinen nach oben, um sie ins Bett zu bringen. Ich kümmere mich derweil um das Geschirr. Als ich fertig bin, entschließe ich mich, Sarah auch ‚gute Nacht’ zu sagen und schleiche leise die Treppe hoch, da ich höre, wie sich die beiden unterhalten. Ich will gerade in ihr Zimmer eintreten, als ich sie Jacob fragen höre.
„Magst Du Nicky?“
„Hhhmm, sehr sogar“, erwidert er, was mich etwas beunruhigt, da ich nicht weiß, wie ich dieses ‚sehr sogar’ deuten soll.
„Daddy mag sie auch, oder?“
„Ich denke schon, ja. Aber wieso fragst Du, Schatz?“
Ich höre, wie das Bett knarrt – sie bewegt sich und ich kann sie vor mir sehen, wie sie sich anscheinend aufsetzt oder an das Kopfende lehnt.
„Meine Freundinnen haben alle eine Mami und einen Daddy. Ich will, dass Nicky meine Mami ist.“
Mir bleibt das Herz stehen. Sie spricht zuerst mit Jacob darüber und nicht mit Christopher! Was wird er sagen?
„Tja, mein Engel, ich würde sie auch gern als Deine Mami sehen, aber das ist ihre Entscheidung. Du hättest dann eine Mami und zwei Daddys, weißt Du das?“
„Nein, ich habe eine Mami, einen Daddy und einen Onkel.“
Ihre Antwort lässt mich schmunzeln. Sie nimmt ihm – ohne dass es ihr bewusst ist – den Wind aus den Segeln. Sarah sieht mich mit Christopher und nicht mit Jacob. Aber ob Jacob das auch so sieht oder er einfach darüber hinwegsieht, da er ja immer in erster Linie der Onkel für sie war?

Ich schleiche ein paar Treppenstufen zurück nach unten, drehe mich um und trete dann etwas fester auf, so dass mich die beiden hören. Abrupt hören sie auf zu sprechen, als ich um die Ecke komme.
„Ich wollte Dir noch ‚gute Nacht’ sagen, Sarah!“
Sie streckt mir ihre Arme entgegen, und ich umarme sie. Dann kuschelt sie sich in ihr Himmelbett und ich decke sie zu. Ein Kuss auf die Stirn von mir und anschließend von Jacob zaubern ihr ein Lächeln auf die Lippen.
„Schlaf gut, Sarah, und träum was Schönes.“ flüstere ich leise, als wir aus dem Zimmer gehen.
Jacob will gerade die Tür schließen, als sie noch einmal den Kopf hebt. „Bleibst Du heute Nacht hier bei uns?“
Ausweichend antworte ich ihr: „Du bekommst ein ganz tolles Frühstück, versprochen!“ Damit gibt sie sich zufrieden und legt sich wieder hin.

Während ich ins Wohnzimmer gehe und mich erschöpft auf die Couch fallen lasse, geht Jacob in die Küche und kommt wenig später mit einer Flasche Wein und zwei Gläsern zurück.
„Tut mir leid, Jacob, aber mir ist im Moment nicht nach Wein. Ich mach mir ‘nen Tee.“
Er stockt. „Oh, sorry, ich dachte nur… Naja… Also bei mir hilft Wein, um ein wenig abzuschalten und runter zu kommen.“
Beim Vorbeigehen lege ich kurz mein Hand auf seine Schulter. „Danke, ich weiß, dass es lieb gemeint war, aber mir ist ein Tee lieber.“
Ich schalte den Wasserkocher an und lehne mich dann mit dem Rücken gegen die Arbeitsplatte, so dass ich ins Wohnzimmer schauen kann. Selbst von hinten kann ich Jacob’s Kummer sehen: er sitzt angespannt da, den Oberkörper leicht nach vorn gebeugt und mit beiden Händen das Glas umfasst. Was ihm wohl gerade durch den Kopf geht? Das Klicken des Kochers lässt mich zusammenzucken. Ich gieße mir einen Tee auf und gehe zurück zur Couch. Er sitzt mir nun gegenüber und ich sehe Sorgenfalten auf seiner Stirn.
„Jacob?“ spreche ich ihn leise an.
Er schaut auf, sieht mich an und versucht zu lächeln, aber ich kann sehen, dass es ihm sehr schwer fällt.
„Ist alles in Ordnung mit Dir?“

„Es ist alles so… einfach ein totales Chaos. Christopher war immer der Fels in der Brandung, ich war der Meinung, er wird immer für mich da sein. Ich hab mein Leben in vollen Zügen genossen, mich nie wirklich um eine Beziehung bemüht, weil ich immer wusste, dass zu Hause bereits eine Familie auf mich wartet. Und jetzt… jetzt… Fuck, jetzt ist alles einfach nur ein totales Chaos!“
Er schluckt und irgendwie habe ich das Gefühl, er will einen Kloß in seinem Hals loswerden. Ich bin mir unsicher, wie ich reagieren soll – nicht bezüglich meinen Worten, sondern mit meinen Taten. Soll ich mich zu ihm auf die Couch setzen und ihn als Trost in den Arm nehmen, wie ich es bei jedem anderen sofort tun würde oder sollte ich trotz allem den Abstand waren? Ich entscheide mich vorerst für letzteres.
„Jacob, Christopher geht’s doch gut. Du hast den Arzt gehört. Es wird alles wieder in Ordnung kommen. Er war und wird immer Dein Fels in der Brandung sein – da kann kommen, was will.“
In seinem Gesicht sehe ich keine Reaktion.
„Und was das Thema Beziehung angeht: ich bin mir sicher, Du hast einfach noch nicht die richtige getroffen. Manche brauchen halt etwas länger, bis sie die wahre Liebe gefunden haben.“

Mit einem Satz steht er auf und geht zum Fenster. Gedankenverloren schaut er nach draußen und sagt dann leise.
„Und was, wenn ich die richtige gefunden habe, sie aber für mich unerreichbar ist?“
„Du hast die richtige gefunden?“ frage ich ihn überrascht. „Das ist doch toll! Und woher willst Du wissen, dass sie unerreichbar ist? Ist sie etwa verheiratet oder bereits vergeben?“
Jacob antwortet nicht und ich hake nach. „Jacob? Was ist mit ihr?“
Er dreht seinen Kopf und schaut mich über seine Schulter hinweg an. Und diesmal kann ich in seinen Augen lesen.
„Bitte, Jacob, sag mir, dass das nicht wahr ist?!“
Wieder schaut er nach draußen. „Es tut mir leid, Nicky. Aber was soll ich denn machen? Am Anfang dachte ich, es ist nur wieder so ne Art… ich weiß nicht… wie’s halt normalerweise bei mir und den Frauen ist. Aber als Du weggegangen bist und nicht mal Christopher wusste, wo Du bist, habe ich plötzlich gespürt… Und als Du heute im Krankenhaus aufgetaucht bist… ich… Fuck, fuck, fuck – Nicky, ich kann es doch auch nicht ändern! Du bist für mich unerreichbar, denn Du liebst Christopher und Christopher… Er liebt Dich. Selbst Sarah sieht Dich mit ihm zusammen und nicht mich. Er ist mein großer Bruder und ich werde ihn nicht noch einmal verletzen.“

Ich kann nicht anders und gehe zu ihm. „Jacob, ich weiß nicht… das ist… Es tut mir so leid!“
„Siehst Du“, entgegnet er. „Chaos – sag ich ja.“
Ich drehe ihn zu mir, schaue ihn für einen kurzen Moment an und nehme ihn dann in den Arm.
„Ich kann gut verstehen, wie es Dir geht. Auch ich war schon mal in so einer ähnlichen Situation.“
Jacob legt seinen Kopf auf meine Schulter und umarmt mich. Aber zum ersten Mal – abgesehen von der Umarmung im Krankenhaus – habe ich dabei kein ungutes Gefühl.
„Was soll ich jetzt machen, Nicky? Die einzige Möglichkeit, darüber hinwegzukommen, ist, für ne Weile wegzugehen. Wo ich in Ruhe abschalten kann – vielleicht auch meine Gefühle zu Dir.“
Ich ziehe mich zurück, umfasse mit meinen Händen seine Oberarme und schaue ihm in die Augen.
„Jacob, glaub mir, das funktioniert nicht. Ich selbst habe es getestet und es hat rein gar nichts gebracht. Man vermisst die Person nur noch mehr, weil man sie nicht sieht und nicht weiß, wie es ihr geht etc. Und Du kannst nicht einfach so Christopher und Sarah im Stich lassen. Sie brauchen Dich – mehr denn je! Bleib hier, Jacob, und… ich weiß, es klingt abgedroschen und im Moment vielleicht auch total bescheuert, aber… bleib hier und stell Dich Deinen Problemen. Wir sind alle erwachsen und ich bin mir sicher, wir können die Situation meistern – zu dritt.“

Jacob’s Blick wird fragend. „Willst Du denn mit Christopher über… also… willst Du ihm von meinen Gefühlen für Dich…“
Ich nicke. „Wir sollten ehrlich zu ihm sein. Ich, weil ich mit ihm eine Beziehung führen will und Du, weil es Dein Bruder ist. Nur, wenn er vollends bescheid weiß, können wir zu dritt daran arbeiten. Ich weiß, es wird schwer und wir müssen uns sehr vertrauen können, aber wenn uns etwas daran liegt, wird es klappen.“
Kaum wahrnehmbar bewegt er seinen Kopf auf und ab. Er holt ein paar Mal tief Luft und geht dann zurück zur Couch. Während er sich setzt, beginnt sich sein Gesicht aufzuhellen und er sagt.
„Du klangst gerade echt wie unsere Mutter.“
Ich reiße überrascht meine Augen auf. „Wie bitte?“
„Naja, bei ihr war das Glas auch immer halbvoll. Sie hat immer nur das Positive gesehen und hat immer einen Ausweg gewusst. Für einen kurzen Moment hatte ich das Gefühl, sie steht vor mir.“
Ich gehe zur anderen Couch, widme mich meinem Tee und wir genießen die Ruhe.

„Du hast unser Leben auf den Kopf gestellt, in welcher Weise auch immer, aber ich bin Dir dafür unheimlich dankbar!“ sagt Jacob nach einer Weile. „Ohne Dich wären wir wohl auf der Stelle getreten. Uns geht es nicht schlecht, aber vor allem bei Christopher hatte ich immer wieder das Gefühl, ihm fehlt eine Frau an seiner Seite. Auch wenn es mir wehtut, das zu sehen – durch Dich hat wieder seine volle Lebensfreude zurück gewonnen.“
Ich stehe auf, lege sanft meine Hand auf seine Schulter und schaue ihn gerührt an – ich bin nicht in der Lage, darauf etwas zu sagen, aber er versteht es auch so.
„Ok, dann geht die Mama jetzt mal nach Hause und ins Bett.“ werfe ich ihm zum Abschluss entgegen und wir beide lächeln.
Es ist immer gut, mit einem Lächeln ins Bett zu gehen, hatte meine Oma früher immer gesagt, und sie hat recht.
„Wieso bleibst Du nicht einfach hier?“ ruft er mir hinterher. „Direkt neben Sarah ist Christopher’s Schlafzimmer. Er hat sicher nichts dagegen. Und…“
Er dreht sich zu mir um. „Du brauchst keine Angst zu haben. Ich werde artig sein. Ich habe aus meinen Fehlern gelernt.“
Ich überlege einen kurzen Moment und bin ihm innerlich dankbar dafür, dass ich nicht noch durch die Nacht nach Hause in eine leere Wohnung fahren muss.
„Danke! Das Angebot nehme ich sehr gerne an. Gute Nacht!“

*****

Ich schlafe nicht wirklich gut und so stehe ich schon gegen halb 8 Uhr auf. Es ist ruhig im Haus und ich mache mir einen Kaffee, um aufzuwachen und Kräfte zu sammeln. Ich laufe gerade mit der Tasse ins Wohnzimmer, als Jacob nach unten kommt.
„Oh, guten Morgen“, lächelt er mich an. „Ich wusste gar nicht, dass Du schon auf bist.“
„Ich hab nicht sonderlich gut geschlafen“, erwidere ich, während er sich anzieht. „Du gehst weg – vor dem Frühstück?“
„Ähm, ja, ich muss dringend mal ins Büro. Sobald Sarah wach ist, könnt ihr frühstücken. Wartet nicht auf mich. Ich weiß nicht genau, wie lange es dauert, aber spätestens um 11 Uhr bin ich wieder zurück. Dann fahren wir gemeinsam zu Christopher.“
Ich nicke und schon ist er aus der Tür.

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