Kapitel 19

Auf der Couch mache ich es mir in der Wolldecke gemütlich und schlürfe gedankenverloren meinen Kaffee. Immer wieder musste ich daran denken, was mir Jacob gestern gesagt hat. Und immer wieder habe ich mir die Frage gestellt, ob er es wirklich gebacken bekommt, mit Christopher und mir zusammen zu sein, während er seine Gefühle vergessen soll. Das Tapsen von kleinen Füßen holen mich zurück in die Gegenwart. Völlig verschlafen kommt Sarah um die Ecke und setzt sich zu mir.
„Guten Morgen, Sarah. Hast Du gut geschlafen.“
Gähnend schaut sie mich an und nickt. „Ja, aber jetzt hab ich Hunger. Machst Du mir Pancakes mit ganz viel Sirup?“
Ich drücke sie an mich. „Natürlich, Schatz. Wir machen ein Mädelsfrühstück, da Dein Onkel kurz ins Büro musste.“

Keine halbe Stunde später sitzen wir an einem reich gedeckten Tisch. Christopher hatte immer viel Wert auf eine gesunde Ernährung gesetzt – vor allem wegen Sarah. Neben den eher ungesunden Pancakes gibt es ein kleines Müsli mit frischen Früchten, frisch gepresster Saft und Obst. Hier mit ihr zu sitzen, führt mir wieder einmal vor Augen, dass ich das immer am meisten vermisst habe in meinem alten Leben – eine richtige Familie.
„Gehen wir nachher zu Daddy?“ fragt sie mich mit vollem Mund.
„Wenn Onkel Jacob wieder da ist, wir beide den Tisch abgeräumt und uns angezogen haben, fahren wir sofort los.“
„Meinst Du, er kann morgen mit uns Silvester feiern? Oder muss er noch im Krankenhaus bleiben?“
Mein Gott – Silvester! Das hatte ich ja total aus den Augen verloren.
„Ich weiß es nicht, Sarah. Wir müssen sehen, was der Arzt sagt, ob Dein Daddy schon nach Hause darf.“
Sie begnügt sich mit dieser Antwort – ich allerdings weiß, dass wir wohl eher mit ihm feiern müssen.

Wie er es versprochen hatte, kommt Jacob gegen halb 11 Uhr wieder nach Hause.
„Alles geregelt?“ frage ich ihn, als er seine Akten ins Arbeitszimmer bringt und ich Sarah anziehe.
„Ja, ich muss nur noch was mit Christopher besprechen… und auch mit Dir.“
Ich schaue ihn irritiert an, aber er winkt ab.
„Wir müssen los. Bist Du soweit, Sarah? Jetzt geht’s zu Daddy.“
Die Kleine jauchzt förmlich. „Wer zuerst beim Auto ist, hat verloren!“ ruft sie, als sie schon fast draußen ist.
„Das ist gemein, Du schummelst!“ sprintet Jacob hinterher.
Ich muss lachen – es tut gut, Sarah lachen zu sehen – und Jacob.

Mittlerweile wurde Christopher auf die normale Station verlegt, da es über Nacht keine Komplikationen gab und er normal aufgewacht ist. Als wir eintreten, schläft er gerade, aber er sieht schon viel besser aus. Sein linker Arm ist in einen Gips gepackt und ich kann durch seinen Pyjama sehen, dass sein Oberkörper ebenfalls verbunden ist – die Rippe, die ihm beinahe zum Verhängnis geworden wäre. Der Arzt sagte uns, dass sie nur knapp die Lunge beim Bruch verfehlt hat und dass er deshalb solch ein Glück gehabt hat.
„Wir müssen leise sein, Schatz“, flüstert Jacob zu Sarah. „Daddy schläft noch!“
Sie neigt den Kopf. „Daddy schläft aber viel?“
Ich streiche ihr mit der Hand über die braunen langen Haare und sie blickt zu mir nach oben. „Weißt Du, Dein Daddy muss viel schlafen, damit er ganz schnell wieder zu Hause ist.“
In diesem Moment raschelt das Bettlaken und Christopher dreht den Kopf. Seine Augen öffnet er nur langsam, doch als er uns registriert, erhellt sich sein Gesicht.

Jacob geht zu ihm und setzt sich auf die Kante.
„Du hast uns ja einen schönen Schrecken eingejagt, Bro! Tu das bloß nicht wieder! Ich bin fast gestorben vor Sorge!“
„So schnell wirst Du mich schon nicht los, Kleiner!“ erwidert Christopher. „Du weißt doch, Unkraut vergeht nicht!“
Er dreht den Kopf zu mir und Sarah. „Hallo, Baby! Willst Du Deinen Daddy nicht einen dicken Knutscher geben?“
Vorsichtig nähert sie sich seinem Bett und krabbelt auf den Stuhl. „Aber nicht, dass ich Dir weh tue, Daddy!“
„Schon okay, mein Engel! Du darfst ruhig zu mir kommen – und sogar die Schuhe im Bett anlassen.“
Christopher zwinkert ihr zu und daraufhin steigt sie zu ihm und legt sich vorsichtig in seinen rechten Arm. Sie gibt ihm einen Kuss auf die Wange und kuschelt sich dann ganz nah an ihn.
„Und was ist mit Dir?“
Seine Augen fressen mich förmlich auf. Ich habe bis jetzt an der Tür gestanden und bewege mich nun langsam auf ihn zu.
„Bekomme ich auch von Dir einen Knutscher?“
Verschmitzt schaue ich ihn an. „Nö, ‘nen Knutscher bekommste nicht.“
Er schaut mich irritiert an und noch bevor er nachfragen kann, lehne ich mich zu ihm nach unten und küsse ihn leidenschaftlich. Als ich ihm endlich wieder die Möglichkeit gebe zu atmen, grinst er.
„Okay, ein Knutscher war das nicht. Da hast Du Recht. Tut mir übrigens leid, dass ich Dich gestern versetzt habe, aber mir ist da… mir ist da jemand im wahrsten Sinne des Wortes dazwischen gekommen.“
Dass er schon wieder Scherze machen kann, stimmt mich zuversichtlich.
„Es sei Dir verziehen – aber nicht, dass das noch mal vorkommt!“

Christopher klopft mit seiner Hand auf die Bettkante und ich setze mich. Obwohl er Sarah im Arm hat, sucht er meine Hand und hält sie fest. Aus dem Augenwinkel kann ich sehen, dass Jacob uns beobachtet. ‚Es tut mir leid!’ sage ich in Gedanken.
„Christopher? Ich…“ Jacob druckst herum. „Du wolltest gestern mit mir reden und ich weiß auch, worum es ging. Zumindest zu 99 %. Ich wollte Dir nur sagen, dass mir alles, was passiert ist, unendlich leid tut. Ich… ich war einfach ein kompletter Idiot und dass ich Dich so verletzt habe… Dich so enttäuscht habe… Ich hoffe, Du kannst mir verzeihen.“
Er traut sich nicht, in Christopher’s Augen zu sehen, als dieser antwortet.
„Du solltest Dich eher bei Nicky entschuldigen!“ sagt er leicht böse.
Noch bevor Jacob darauf eingehen kann, gehe ich dazwischen.
„Christopher, Jacob und ich haben uns gestern ausgesprochen. Zwischen uns ist alles geregelt. Ich will nicht sagen, dass wieder alles in Ordnung ist, aber wir sind im Reinen. So blöd es klingt, aber Dein Unfall hat uns, glaube ich, gezeigt, was wirklich wichtig ist im Leben – die Familie. Und die wollen weder ich noch Jacob zerstören.“
Christopher schaut zwischen Jacob und mir hin und her.
„Ich bin froh, das zu hören. Jetzt bin ich auch beruhigter, was Sarah anbelangt. Nicky, vielleicht kannst Du ja, bis ich wieder zu Hause bin, bei uns wohnen und ein bisschen ein Auge auf sie haben. Nur, wenn es Dir nichts ausmacht.“
Ich streichele vorsichtig über Sarah’s Wange, die in Christopher’s Arm eingeschlafen ist.
„Das würde ich sehr gerne tun. Dann kann ich auch dafür sorgen, dass Jacob sie nicht mit Fast Food voll stopft.“
Christopher stimmt mir zu. „Dann bekommt auch er in meiner Abwesenheit trotzdem gutes gesundes Essen.“
Wir schauen beide zu Jacob, als dieser sagt: „Darüber wollte ich noch mit Dir sprechen, Christopher.“

Verwirrt schaut dieser seinen kleinen Bruder an. „Worüber?“
„Naja, ich hab mir gedacht, solange Du noch nicht fit bist, können wir das Büro eh nicht richtig laufen lassen. Wie wär’s also, wenn wir für zwei bis drei weitere Wochen… wie sagt man so schön… krankheitsbedingt schließen und ich kümmere mich in der Zeit um unsere Expansionspläne?“
Meine Augen werden riesengroß. „Expansionspläne? Was soll das denn heißen?“
Jacob klärt mich auf. „Wir wollten schon immer nicht nur in Toronto und Umgebung Häuser verkaufen, sondern auch für die Besserverdiener Häuser in den USA anbieten – sozusagen den Ruhesitz für die Rentner vermitteln. Wir hatten schon des Öfteren Kontakt mit zwei Maklern in Florida und Kalifornien, die uns damals bei unseren Anfängen geholfen haben. Witzigerweise gehen beide kommendes Jahr in den Ruhestand und hatten uns gefragt, ob wir uns weiter um das Geschäft kümmern wollen. Naja, ich hatte mir gedacht, ich könnte die beiden jetzt besuchen und mir das ganze mal genauer anschauen. Ob es überhaupt für uns in Frage kommt oder ob wir da immer präsent sein müssten. Uns wäre es natürlich lieber, es von Toronto aus machen zu können. Du wolltest eh im Frühjahr runterfliegen, Christopher, aber ich kann das doch jetzt auch machen, bis Du wieder gesund bist.“

Ich kann sehen, wie Christopher darüber nachdenkt und auch meine Rädchen drehen sich. Jacob hatte mir gesagt, er müsse auch mit mir reden und ich denke, das hat er eben getan – allerdings muss ich dazu zwischen den Zeilen lesen, was ich Gott sei Dank gut kann: er braucht Abstand zu mir und das ist seine Gelegenheit. Drei Wochen können eine Menge ändern, wenn auch nicht alles, aber zumindest ist es ein Anfang.
„Klingt eigentlich gar nicht mal so schlecht, Jacob!“ antwortet schließlich Christopher. „Du solltest die Kamera mitnehmen und ein paar Fotos von den Häusern, die zum Verkauf stehen, machen, so dass ich mir ein Bild machen kann, ob es in unser Sortiment und unsere Klientel passt.“ Er kneift seinen Bruder in die Seite. „Das bin ich ja gar nicht von Dir gewöhnt, dass Du so mitdenkst, was die Firma anbelangt.“
„Ha ha ha“, gibt Jacob ironisch zurück. „Wenn Du Dich lieber den ganzen Tag im Bett aufhältst, muss ich mich halt um die Geschäfte kümmern.“

Die zwei Stunden Besuchszeit vergehen wie im Flug und wir müssen uns leider schon wieder verabschieden. Gerade, als Sarah vom Bett runterrutschen will, fällt ihr noch etwas ein.
„Daddy, morgen ist doch Silvester…“
Christopher versteht sofort. „Ich glaube, ihr werdet hier bei mir feiern müssen. Ich muss noch zwei Tage hier bleiben. Aber wenn Du Dr. Richardson ganz lieb fragst, dürft Ihr vielleicht bis Mitternacht dableiben.“
Sie strahlt über’s ganze Gesicht und nachdem auch Jacob und ich uns von Christopher verabschiedet haben, klären wir mit Dr. Richardson ab, ob das in Ordnung ist.
„Naja, ist ja eigentlich nicht üblich… Aber… Aber Du musst mir versprechen, kleine Lady, dass Du es niemandem verrätst, ja?“
Aufgeregt nickt sie und rennt dann noch einmal zu Christopher ins Zimmer, um ihm die Nachricht zu überbringen.
„Ich hab Dich verstanden, Jacob.“
Er sieht mich irritiert an. „Was meinst Du?“
„Ich weiß, dass nicht nur Christopher und die Firma der Grund ist, warum Du in die Staaten fliegst. Du willst Abstand von ihm und mir und das ist die beste Möglichkeit.“
Er nickt. „Ist das auch für Dich okay? Ich meine, wegen Sarah und Christopher. Du hast ja dann zwei, auf die Du aufpassen musst.“
Ich streichele ihm über den Oberarm. „Mach Dir da mal keine Sorgen! Das wichtigste ist, dass Du den Kopf frei bekommst und wir dann vielleicht völlig relaxt zusammen leben können!“

*****

Am nächsten Morgen, als ich aufstehe und in die Küche komme, hat Jacob bereits das Frühstück gemacht. Sarah kaut bereits auf ihrem Müsli herum, allerdings nicht gerade begeistert. Die beiden bemerken mich nicht.
„Onkel Jacob, muss ich dieses blöde Müsli essen? Ich will lieber Pancakes von Nicky!“
„Tut mir leid, Schatz, aber Nicky schläft noch und außerdem will Dein Daddy, dass Du was gesundes ist. Du kannst doch nicht jeden Tag so was Süßes zum frühen Morgen essen.“
„Vielleicht nicht jeden Morgen“, mache ich mich bemerkbar. „Aber einmal in der Woche. Wie wär’s damit?“
Die beiden schauen mich an und Sarah antwortet mir mit vollem Mund. „Versprochen?“
Ich nicke. „Aber nur, wenn Du mir versprichst, dass Du an den anderen Tagen Dein Müsli immer brav auf isst, damit Du groß und stark wirst!“
„Mach ich!“ erwidert sie eifrig. „Ganz bestimmt. Machst Du dann jetzt Pancakes?“
Jacob und ich lächeln uns an.
„Tut mir leid, aber ich hab Dir gestern welche gemacht. Noch sechs mal schlafen, dann gibt’s wieder welche, ok?“
„Ja, Mami!“ nuschelt sie in ihr Müsli und senkt den Kopf.
Völlig überrascht schauen Jacob und ich uns an und denken das gleiche: hat sie das eben im Unterbewusstsein gesagt oder war das mit voller Absicht? Ich beschließe, nicht weiter darauf einzugehen und gebe Jacob mit einem leichten Kopfschütteln zu verstehen, es genauso zu handhaben.

Nach dem Frühstück entscheide ich mich, ein paar Dinge einzukaufen, damit wir heute Abend etwas besonderes zum Jahreswechsel bei Christopher im Krankenhaus essen können. Ich hatte den Arzt gestern daraufhin angesprochen und er meinte, dass es Christopher auf keinen Fall schaden wird. Sarah will bei Jacob bleiben und so lasse ich die beiden allein.
„Ich fahr danach noch kurz zu Marcus, um ein paar Sachen zu holen, ok?“
„Klar, keine Eile, Nicky! Ich werde mich in der Zwischenzeit mit den Maklern in Verbindung setzen.“

Im Supermarkt ist die Hölle los und so versuche ich, mir so schnell wie möglich die notwendigen Dinge zu krallen, um diesem Treiben wieder zu entkommen. Als ich zu Marcus’ Haus komme, überlege ich, was ich eigentlich einpacken soll – vor allem, für wie lange? Ich lege mir einige Klamotten heraus, Pyjama, ein zweites Paar Schuhe und einige Kosmetikartikel und stecke alles in eine Sporttasche von Marcus. Ich bin gerade wieder auf dem Weg nach unten, als mein Handy klingelt: Christopher.
„Hallo, Chris! Ist alles in Ordnung?“
„Hi, Süße! Um ehrlich zu sein… Nein!“
Mein Puls schießt augenblicklich in die Höhe.
„Was ist los? Ist was passiert?“ frage ich ihn aufgeregt.
„Wie man’s nimmt“, antwortet er und ich lege meine Stirn in Falten, da ich nicht weiß, was er meint. „Nicky, ich vermisse Dich. Hier im Krankenhaus ist es so ruhig heute – nur ne Notbesetzung und ich fühl mich einsam. Kannst Du nicht vorbeikommen?“
Ich bin gerührt. „Wir wollten doch heute Abend sowieso kommen, dann…“
Christopher lässt mich nicht ausreden. „Das meine ich nicht! Deine Nähe fehlt mir… Dein Geruch… Deine… Deine Haut… Deine Umarmungen… Einfach alles! Ich kann das nicht genießen, wenn Jacob und Sarah mit dabei sind, verstehst Du?“
Nur zu gut verstehe ich ihn. Wie gern hätte ich ihn um mich! Obwohl wir erst vor drei Tagen das letzte Mal zusammen geschlafen haben, vermisse ich seine Berührungen, als wäre es drei Monate her.
„Aber Du bist im Krankenhaus, Chris. Könnte etwas schwierig werden, Dir das zu geben, was Du vermisst.“
„Das denke ich nicht!“ An seinem Tonfall kann ich hören, dass er schon etwas geplant hat. „Wie lang brauchst Du?“
Ich bin völlig perplex. „Ähm, ich bin bei mir. Also… ne halbe Stunde.“
„Ok“, erwidert er. „Beeil Dich!“

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