Kapitel 21

Um nicht in unschöner Erinnerung zu kramen, komme ich schnell auf ein anderes Thema zu sprechen.
„Christopher, ich hoffe, Du magst Wildlachs. Ich habe mich etwas an der kanadischen Küche versucht und Jacob und Sarah waren mir dabei eine große Hilfe. Also, falls es nicht schmecken sollte, kannst Du auch sie verantwortlich machen.“
Mit seinen Fingern fährt er über meinen Handrücken. „Ich bin mir sicher, dass es gut schmeckt. Du hast mich doch schon einmal von Deiner Kochkunst überzeugt!“

Da Christopher bereits wieder aufstehen kann und darf, setzen wir vier uns an den Tisch im Zimmer und machen es uns so gut es geht gemütlich. Das Essen schmeckt wirklich ausgesprochen gut – in Gedanken lobe ich mich selbst dafür. Um Sarah bei Laune zu halten, hat Jacob ein paar Brettspiele eingepackt und wir vertreiben uns so die Zeit. Plötzlich lehnt sich Christopher zu mir.
„Kann ich mal mit Dir reden?“
Etwas verblüfft nicke ich und folge ihm auf den Gang. Wir gehen bis ans Ende, von wo aus wir durch das Fenster einen schönen Blick auf den beleuchteten Park haben.
„Nicky, ich hab etwas für Dich.“
Er drückt mir eine kleine Box in die Hand. Ich schaue ihn mit großen Augen an.
„Was ist…“
„Mach’s auf, dann weißt Du, was drin ist.“
Vorsichtig löse ich die kleine Schleife und als ich den Deckel hebe, bin ich gerührt: ein Schlüssel, bei dem ich mir sehr gut vorstellen kann, das passende Schloss zu kennen.
„Du bist jederzeit bei uns zu Hause willkommen und ich möchte, dass Du auch jederzeit kommen kannst. Egal, ob ich da bin oder nicht. Du… ich wäre sehr glücklich, wenn… also…“
Christopher senkt den Blick – er sucht nach Worten. Mit meinem Zeigefinger hebe ich seinen Kopf, so dass er mir direkt in die Augen schauen muss und gebe ihm einen Kuss.
„Danke für dieses wundervolle Geschenk, Christopher. Das ist ein großer Vertrauensbeweis und ich kann nicht glauben, dass Du mir nach nur einem guten Monat den Schlüssel zu Deinem Haus… Deinem Leben überlässt.“
Ich sehe, wie sich seine Augen mit Tränen füllen.
„Nicky, ich möchte, dass Du zu meinem Leben gehörst, zu unserem Leben – das von mir und Sarah… und auch von Jacob. Jetzt, wo ich weiß, dass Ihr Euch ausgesprochen habt, bin ich zuversichtlich, dass es mit uns vieren klappt. Sarah liebt Dich wie… Sie hat mich gefragt, ob Du ihre Mami sein kannst. Ich wusste nicht, was ich antworten sollte, weil ich mir nicht sicher war, wie Du darüber denkst… wie Du Dich fühlst, weil Jess…“
Mit beiden Händen nehme ich Christopher’s Kopf.
„Mich hat Sarah das auch schon gefragt und wenn Du das auch willst, wenn Du es wirklich willst, dann bin ich für Sarah da – und für Dich.“
„Ja, das will ich, Nicky! Mehr als alles andere will ich, dass Du zu unserer Familie gehörst!“

Christopher und ich gehen gemeinsam zurück in sein Zimmer, wo Sarah Jacob auf dem Bett im Schwitzkasten hat.
„Hilfe, Hilfe – ich ergebe mich!“ lacht Jacob.
Christopher nimmt mich in den Arm.
„Du bist Dir sicher, dass Du dieses Chaos willst?“ flüstert er mir ins Ohr.
Ich nicke und als ich sehe, dass Jacob vollends mit Sarah beschäftigt ist, gebe ich Christopher einen Kuss auf die Wange. Ich möchte seinen kleinen Bruder nicht unnötig verletzen.

Es ist kurz vor Mitternacht und Sarah ist noch immer hellwach, was mich sehr überrascht.
„Nicky?“ Sie zupft an meinem Shirt. „Gehst Du mit mir Feuerwerk schauen?“
„Klar, meine Kleine, mach ich gerne. Dann lassen wir die beiden Jungs mal alleine, oder? Aber erst wollen wir gemeinsam ins neue Jahr starten. Das Feuerwerk geht nie pünktlich um Mitternacht los, Sarah.“
Sie nickt, aber ich kann ihr ansehen, dass sie am liebsten jetzt schon losrennen möchte. Ich beobachte sie und in Gedanken kann ich nicht fassen, wie schnell ich eine komplette Familie geschenkt bekommen habe – inklusive Kind.
„Schatz? Wo bist Du gerade?“ reißt mich Christopher aus meinen Überlegungen.
„Hier, Chris, genau hier bei Dir und Deine Familie!“
„Unserer Familie!“ berichtigt er mich und nimmt mich in den Arm. „Hier, ein Glas Sekt für Dich. Jacob, für Dich. Sarah, hier ist Dein Saft.“
Die Kleine steht zwischen uns Erwachsenen und ich nehme sie auf den Arm. Irgendwie erscheint mir das angemessener.
Jacob zählt rückwärts. „3… 2… 1… Happy New Year!“
Er strahlt Christopher und mich an, gibt dann Sarah einen Kuss auf die Stirn mit den Worten „Ich hab Dich lieb, mein Engel!“ Gerührt davon bildet sich ein kleiner Kloß in meinem Hals. Nicht weinen, Nicky, sage ich zu mir selbst.
Christopher umarmt seinen Bruder. „Ich wünsch Dir nur das beste, Jacob.“
Die beiden schauen sich eindringlich an. „Es tut mir leid, was ich mir in der letzten…“ beginnt er, aber Christopher unterbricht ihn.
„Eben hat ein neues Jahr angefangen, Bro. Lass uns das alte abhaken, okay?“
Mehr als nicken kann Jacob nicht – ich kann sehen, dass ihm diese Worte sehr viel bedeuten. Ich stelle Sarah auf den Fußboden, die sogleich aufgeregt an die Tür rennt.
„Gib mir eine Minute, Sarah!“ rufe ich ihr hinterher, als auch schon Jacob vor mir steht.
„Ich hoffe, Du sieht es genauso wie mein großer Bruder, Nicky.“
Lächelnd nehme ich ihn in den Arm. „Das tue ich, Jacob. Und ich hoffe, dass das neue Jahr ganz viel tolles für Dich bereit hält. Und ich bin mir sicher, Du wirst auch endlich zur Ruhe kommen – Du weißt, was ich meine.“
Ich gebe ihm einen Kuss auf die Wange, bevor ich mich von ihm löse und dann endlich bei ihm angelangt bin: dem Mann, mit dem ich in ein neues Jahr, vielleicht sogar in ein neues Leben starte – Christopher.
„Chris, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Eigentlich habe ich Dir vorhin schon das gesagt, was mir auf der Seele lag und ich…“
Er lässt mich nicht ausreden und gibt mir stattdessen einen Kuss. „Ich liebe Dich, Nicky, und ich will, dass dieses Jahr das erste von vielen Jahren ist, was ich gemeinsam mit Dir verbringe.“
Ich spüre, wie sich meine Augen mit Wasser füllen und die ersten Tränen rollen meine Wangen hinab.
„Nichts anderes wünsche ich mir!“

„Niiiiiiiiiiickyyyyyyyyy!“ holt uns Sarah zurück in die Realität.
Christopher, ich und auch Jacob müssen lachen.
„Okay, okay, ich komme. Na los, wer kein Mädchen ist, muss hier bleiben.“
Sarah streckt ihrem Daddy und ihrem Onkel die Zunge raus und schon sind wir beide aus der Tür. Ich weiß nicht, wo das Schwesternzimmer ist, aber anscheinend hat sich die Kleine vorhin gut informiert. Wir werden bereits freudestrahlend von der netten Krankenschwester erwartet.
„Du kommst gerade rechtzeitig,… ähm…“
„Sarah“, helfe ich ihr aus.
„Sarah, natürlich! Wenn Du Deine Schuhe ausziehst, kannst Du Dich hier auf den Stuhl stellen, um besser zu sehen.“
Das lässt sie sich nicht zweimal sagen. Sie gibt sich nicht mal Mühe, die Schnürsenkel zu öffnen, sondern streift sie mit aller Gewalt rasend schnell über ihre Füße. Die Schwester und ich müssen lachen.
„Möchten Sie ein Glas Sekt – leider nur alkoholfrei. Ich bin im Dienst.“ werde ich gefragt.
„Danke, gerne, das ist lieb. Alkoholfrei ist mir auch ganz recht. Wir müssen ja wieder nach Hause fahren und ich denke mal, dass ich wohl als Fahrer eingeteilt bin, ohne es zu wissen. Übrigens: Nicky!“ sage ich und halte ihr die Hand hin.
„Freut mich. Ich bin Meredith.“
Wir beide stoßen an, wobei ich immer ein Auge auf Sarah habe, die sich gar nicht satt sehen kann an den ganzen tollen Raketen.
„Sie haben eine hübsche Tochter, Nicky.“
„Danke“, erwidere ich. „Aber das ist nicht meine Tochter. Sie… ich bin mit ihrem Daddy seit… seit einiger Zeit liiert.“
„Oh, verstehe. Ist ihre Mutter…“
Noch bevor sie den Satz beendet kann, falle ich ihr ins Wort. „Ja!“ sage ich kurz und schmerzlos.
Ich will nicht, dass Sarah jetzt daran erinnert wird. Sie hat zwar keine Beziehung zu ihrer Mutter aufbauen können, aber daran, wie Christopher in ihrer Gegenwart von Jessica sprichst, merke ich, dass er Sarah einiges von ihr erzählt hat. Deshalb kennt sie mehr oder weniger ihre Mutter und vielleicht versteht sie auch schon, warum sie nicht mehr da ist.

Nachdem ich mein Glas ausgetrunken habe, gehe ich zu Sarah ans Fenster und umarme die Kleine an ihrer Taille. Instinktiv, ohne, dass ich es wirklich realisiere, lege ich meinen Kopf auf ihre Schulter und sie lehnt sich an mich – in diesem Moment habe ich das Gefühl, dass auch sie weiß, dass ich zur Familie gehöre. Als auch die letzte Rakete am klaren Himmel über Toronto zerplatzt ist, setze ich sie auf den Stuhl und ziehe ihr die Schuhe wieder an.
„Nicky? Daddy hat gesagt, wenn Du es willst, dann darfst Du meine Mami sein. Und Du hast gesagt, wenn Daddy es will, dann willst Du meine Mami sein. Heißt das jetzt, dass Du meine Mami bist?“
Ich schmunzele. Selbst ich brauche eine Sekunde, um diese Aussage zu sortieren – wie soll das dann ein vierjähriges Kind?
„Es liegt nur noch an Dir, Schatz. Soll ich Deine Mami sein?“
Ich mache die Schleife am zweiten Schuh und lege dann meine Hände auf ihre Oberschenkel. Plötzlich fällt sie mir um den Hals, dass ich mich kaum noch in der Hocke halten kann.
„Ich wollte schon immer eine Mami halten und Du bist super! Ja, sei meine Mami.“
„Ach Gottchen, ist das rührend!“ höre ich hinter mir Meredith.
„Wenn mich die Kleine loslässt, ist es auch für mich rührend“, muss ich lachen. „Sarah, wollen wir zurück zu Deinem Daddy und Onkel Jacob gehen und Du sagst ihnen, dass ich jetzt Deine Mami bin?“
Während sie nickt, rennt sie auch schon durch die Tür auf den Flur.
„Alles Gute für Sie, Nicky. Für Sie und Ihre neue Familie!“ wünscht mit Meredith und ich bin völlig überrascht über diese Worte.

Christopher und Jacob sitzen auf dem Bett mit dem Rücken zu uns. Aus irgend einem Grund hatte ich geahnt, dass wir nicht hineinplatzen sollten und deshalb Sarah gebeten, ganz leise zu sein – sozusagen als Überraschung. Ich lege den Finger auf meinen Mund, damit Sarah auch weiterhin kein Wort sagt.
„Du willst also wirklich schon in zwei Tagen in die Staaten fliegen? Das geht ja schon verdammt schnell.“
Jacob hat mit Christopher über die genauen Pläne gesprochen. Damit hätte ich nicht gerechnet.
„Je eher, desto besser, Chris. Wie ich schon sagte – jetzt ist der beste Moment. Sorry, klingt jetzt blöd, weil Du ja außer Gefecht bist. Aber eine Woche haben wir offiziell ja sowieso noch geschlossen und ich glaube, jetzt würde ich eh nur stören, wenn Nicky bei uns wohnt. Du weißt schon – Anfangszeit einer Beziehung und so.“
Er kneift Christopher in die Seite. Ob es ihm schwer gefallen ist, diese Worte auszusprechen? Oder hat er sich bereits komplett damit abgefunden und kann – zumindest mit seinem Bruder – besser darüber reden? Ich weiß es nicht, aber ich bin froh, dass ich die beiden so zusammen sehe. Plötzlich nimmt Christopher seinen kleinen Bruder in den Arm.
„Ich bin so froh, dass ich Dich habe, Jay! Ohne Dich hätte ich es nie geschafft! Nach Jessica’s Tod… Ich dachte, es gibt nichts, was mich aus diesem Loch wieder rausholen kann. Aber Du hast es geschafft, Du hast mir gezeigt, dass es sich zu leben lohnt und Du hattest recht. Wenn Du mir nicht meinen Willen zurückgegeben hättest, säße ich jetzt nicht hier und hätte eine Frau an meiner Seite, der ich fast mein ganzes Herz schenke.“
Meine Augenbraue hebt sich, ohne dass ich es wirklich will. Jacob spricht aus, was ich denke.
„Was meinst Du mit ‚fast’?“
„Jay, Jessica ist nun mal Sarah’s Mutter und wenn ich Sarah ansehe, sehe ich ihre Mutter. Sie wird immer einen Teil meines Herzens besitzen.“
Und schon senkt sich meine Augenbraue wieder. Damit hatte ich immer gerechnet und damit werde ich auch klarkommen, denn auch bei mir ist es nicht anders. Seine erste große Liebe wird man nie ganz loslassen können.

„Kann ich es jetzt endlich sagen?“ flüstert mir Sarah extrem leise ins Ohr.
„Wie lange steht Ihr denn schon da?“ dreht sich Jacob verblüfft um.
„Ähm“, ich druckste herum. „Wir sind eben erst rein gekommen. Sarah hat Euch was zu sagen.“
Die Kleine rennt zum Bett, zieht sich an Christopher’s und Jacob’s Armen nach oben und quetscht sich zwischen die beiden.
„Nicky ist jetzt meine Mami.“ Sie sagt es, als wäre es das normalste der Welt, doch Christopher und Jacob schauen mich mit großen Augen an.
Jacob ist der erste, der etwas sagt. „Willkommen im Leben der Lawsons.“
Er umarmt mich herzlich und flüstert mir ins Ohr. „Ich werde es schaffen – für Dich, Christopher und Sarah!“
Nur ganz leicht nicke ich ihm zu, was ein ‚Danke’ bedeuten soll und ich bin mir sicher, er versteht es. Ich setze mich auf’s Bett, so dass Sarah zwischen mir und ihrem Daddy sitzt.
„Siehst Du, mein Herz“, sagt Christopher zu Sarah. „Jetzt sind wir eine richtige Familie.“ Sie schiebt ihre Arme hinter mich und ihrem Daddy und umarmt uns, während Christopher und ich uns über ihrem Kopf küssen.

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