Kapitel 42

In diesem Moment kommt Christopher mit Sarah zurück. Sie sieht leicht zerknautscht aus – anscheinend konnte sie im Schwesternzimmer noch ein bisschen schlafen. Mittlerweile ist es halb 9 Uhr morgens.
„Ich werde dann mal Jacob anrufen. Soll ich mich auch bei Nina und Marcus melden?“
„Natürlich“, antworte ich.
„Okay, ich mach das dann mal draußen, wo ich telefonieren darf. Nicht, dass ich noch eins auf den Deckel bekomme.“
Wir beide lachen, und ich merke zum ersten Mal meine Wunde, die bei der leichten Erschütterung schmerzt. Daran werde ich mich wohl gewöhnen müssen, bis sie vollends verheilt ist.
„Kann ich Sarah bei Dir lassen?“
„Klar doch!“
Sarah steht neben mir am Bett und schaut mich mit großen Augen an.
„Und wo ist jetzt mein Bruder?“
„Der wird gerade gebadet. Aber Du müsstest ihn bald zu Gesicht bekommen. Bist Du noch müde, Schatz?“
Sie nickt und gähnt mich an.
„Dann komm doch zu mir ins Bett.“
„Darf ich das?“ fragt sie vorsichtig.
„Natürlich, zieh Deine Schuhe aus und dann komm zu mir.“
Sarah lässt es sich nicht zweimal sagen und kuschelt sich an mich.
„Weißt Du noch, als Daddy das Aua am Bauch hatte? So was ähnliches habe ich im Moment auch, also musst Du aufpassen, versprochen?“
Die Kleine nickt und kuschelt sich dann an mich. „Hat es weh getan?“ fragt sie mich nach ein paar Minuten.
„Ein bisschen, aber es war nicht schlimm.“
Mit ihren Augen mustert sie mich – genau wie noch vor einer Stunde ihr Daddy. Wie ähnlich sich doch die beiden sind.

Die Schwester kommt mit dem typischen Krankenhaus-Babywagen ins Zimmer.
„Na, ob Sie da überhaupt noch Platz für ein weiteres Kind im Bett haben?“ sagt sie lächelnd, als sie Sarah in meinem Arm sieht.
„Sicher doch. Sie wissen doch, Frauen sind multitasking-fähig.“
Sie stellt den kleinen Krümel an die Seite, wo Sarah liegt, so dass die Kleine ihn sich betrachten kann, wie er gerade friedlich vor sich hinschlummert.
„Der is aber klein“, sagt sie trocken. „Und total viele Falten hat der.“
Ich kann mir ein herzhaftes Lachen nicht verkneifen. „So sahst Du am Anfang auch mal aus. Die Falten verschwinden und er wächst ja noch.“
Christopher kommt in diesem Moment wieder zurück ins Zimmer und bleibt für einen kurzen Augenblick an der Tür stehen. Seine Augen verraten ihn: er ist gerührt.
„Das ist das schönste Bild, was ich seit langem gesehen habe!“ sagt er, als er auf uns zukommt.
Sarah zieht die Beine an, so dass Christopher sich ebenfalls auf’s Bett setzen kann, als sich der Kleine meldet und langsam wach wird.
„Soll ich?“ fragt er vorsichtig und schaut mich an.
Ich nicke und muss dann schlucken, als ich ihn mit unserem Sohn auf dem Arm vor mir stehen sehe. Ich rutsche im Bett etwas nach oben, so dass ich leicht sitze und Christopher legt ihn mir in die Arme. Ganz neugierig schaut ihn Sarah an und streichelt ihm dann sanft über die Stirn, was mich fast zu Tränen rührt.

Plötzlich wird die Tür aufgerissen und wir vier zucken etwas zusammen.
„Ich bin wieder Onkel!“ schreit uns Jacob entgegen!
Wir müssen grinsen. Er kommt auf uns zu und Christopher macht ihm Platz.
„Darf ich, Nicky?“ schaut er mich fragend an und ich reiche ihm den Kleinen entgegen. „Also ich finde, dass er diesmal nicht nach seinem Vater kommt. Zumindest die Augen sind definitiv von Dir, Nicky. Und die Nase ist auch von Dir.“
Sein Blick wandert zwischen mir, Christopher und dem Baby hin und her.
„Na, Sarah, was sagst Du zu Deinem Brüderchen?“
„Also ein bissel größer hätte er schon sein können. So kann ich ja gar nicht mit ihm spielen. Aber Nicky hat gesagt, dass er noch wächst. Aber ich find’s toll, dass ich jetzt ein Geschwisterchen hab!“ erwidert Sarah und strahlt.
„Ähm,“ Jacob schaut Christopher und mich fragend an. „Ihr habt mir noch gar nicht den Namen Eures Stammhalters verraten!“
Christopher setzt sich zu mir auf die Bettkante.
„Jayden“, antwortet er. „Jayden Carl, um genau zu sein.“
„Oh, toller Name, ehrlich! Da kann man ihm ja ganz gut ‘nen Spitznamen geben – J.C.!“
Ich verdrehe die Augen. „Jacob, bitte! Wir haben ihm nicht diesen Namen gegeben, dass Du ihn gleich wieder abkürzt. Außerdem ist nur Jayden der Rufname, Carl ist lediglich ein Zweitname.“
Er schaut mich übertrieben entschuldigend an. „Ich glaube, mit einer frisch gebackenen Mutter sollte ich mich nicht anlegen!“
Ich vergebe ihm, denn mit seinem Charme macht ein einfach alles wieder wett.
„Der Name Carl – ist das… also… Dein Opa hieß doch so, oder?“
In meinem Hals spüre ich einen leichten Kloß aufsteigen, den ich aber schnell versuche, wieder hinunterzuschlucken.
„Ja, Christopher hatte die Idee. Ach, und was den Namen Jayden anbelangt. Ist Dir aufgefallen, dass er mit ‚J’ beginnt?“
Jacob nickt, scheint aber – typisch Mann – nicht gleich zu kapieren. „Ja, und?“
„Bro, denk mal nach!“
Als bei ihm immer noch nicht der Groschen fällt, hilft ihm sein Bruder nach.
„Wir wollten einen Namen mit ‚J’, weil… naja… weil Dein Name auch mit ‚J’ anfängt und so… also… ich weiß nicht, wie ich es genau erklären soll. Wir wollten Dich einfach irgendwie… in seinen Namen… sagen wir… einbauen!“
Jacob bekommt riesige Augen! „Ihr habt ihn wegen mir Jayden genannt?“
Seit langem sehe ich bei ihm wieder einmal Tränen – diesmal vor Überraschung, Glück… alles auf einmal denke ich. In diesem Moment beginnt Jayden, der die ganze Zeit über friedlich in den Armen seines Onkels lag, sich zu melden. Jacob gibt ihn mir.
„Ich glaube, da hat jemand Hunger! Wissen Nina und Marcus schon bescheid?“
Christopher nickt. „Ja, die habe ich vorhin angerufen. Die wollten sich gleich auf den Weg machen – naja, wie lange das ‚Gleich’ dauert, wenn man ein Kleinkind und ein Baby hat, weiß ich allerdings nicht.“
Jacob grinst. „Das wirst Du bald selbst herausfinden dürfen, Bruderherz. Ist es für Euch okay, wenn ich Claudia bescheid gebe? Sie hat mich gebeten, sie auf dem Laufenden zu halten!“
„Aber natürlich. Und wenn sie mag, kann sie auch gern vorbeikommen.“

Als Jacob aus der Tür ist, setzt sich Christopher wieder zu mir, während ich Jayden stille. Sarah sitzt immer noch gebannt neben mir.
„Jayden ist echt ein schöner Name.“
„Toll, dass er Dir gefällt, mein Schatz!“ sagt ihr Daddy und streichelt ihr über die Wange.
„Sag mal, Schatz“, richtet er das Wort an mich. „Wollen wir es Claudia jetzt schon sagen, oder ihr noch ein wenig Zeit geben?“
Ich denke kurz nach. „Eigentlich können wir es ihr auch jetzt sagen. Macht ja keinen großen Unterschied, obwohl es noch ein paar Monate dauert, bis es offiziell wird.“
Christopher nickt und rutscht dann näher zu mir.

Nina und Marcus kommen am Nachmittag zur offiziellen Besuchszeit, während Jacob bei Claudia vorbeifährt, um ihr die Neuigkeit persönlich zu erzählen. Marcus ist total aus dem Häuschen.
„Ich freu mich so für Dich, Nicky, für Euch beide! Und der Name ist echt toll! Endlich mal wieder ein normaler Name und nicht so was verrücktes, wie man es jetzt dauernd hört.“
„Na, wir wollten ja auch, dass der Name im Gedächtnis bleibt und nicht jeder sagt ‚Ähm, die Lawsons haben ‘nen Sohn – keine Ahnung, wie er heißt’!“
Nina’s kleine Josephine ist mittlerweile drei Monate alt und schon wahnsinnig gewachsen.
„Ich glaube, wir können schon das Aufgebot bestellen, oder was meinst Du, Christopher?“ witzelt Marcus und Nina und ich lächeln uns an.
„Erstmal schauen, ob sich die beiden überhaupt verstehen.“ antwortet Christopher.
„Ach, da mach ich mir keine Sorgen – die Eltern verstehen sich ja auch.“

Jacob kommt mit Claudia ins Zimmer.
„Oh mein Gott, ist der Kleine süß!“ sagt Claudia schon von weitem. „Ähm, darf ich?“ schaut sie Christopher zögernd an.
„Klar doch! Du wirst ja bald auch für ihn mit verantwortlich sein.“
Sie schaut ihn völlig ahnungslos an, während sie Jayden in ihren Armen wiegt.
„Was soll das heißen?“
Auch Jacob, Nina und Marcus lassen ihre Blicke zwischen Christopher und mir hin- und hergleiten und wir beide lächeln uns an.
„Sag’s ihr, Nicky!“
Ich richte mich auf und wende mich an Claudia.
„Naja, wir… also Christopher und ich würden uns freuen, wenn Du Jayden’s Patentante wirst.“
Sie ist total perplex. „Also jetzt muss ich mich erstmal setzen!“
Unseren Sohn weiter im Arm beginnen ihre Augen langsam zu strahlen.
„Seid Ihr Euch sicher?“
Christopher nickt. „Wären wir uns nicht sicher, hätten wir Dich nicht gefragt.“
„Was soll ich sagen, außer: ja, mit dem allergrößten Vergnügen!“ erwidert sie und streichelt Jayden über die Stirn. „Hallo, mein Patensohn. Ich verspreche Dir, Du wirst von vorn bis hinten verwöhnt!“
Jetzt schaltet sich Jacob ein. „Ähm, aber nicht zuviel, klar? Ich muss ja auch irgendwie mithalten können!“
Claudia stutzt. „Wie meinst Du das?“
„Ach, hatte ich das noch nicht erwähnt? Ich bin doch Sarah’s Patenonkel.“

Sarah ist dem Gespräch aufmerksam gefolgt und als sie jetzt ihren Namen hört, springt sie auf und rennt zu Jacob, der sie liebevoll auf den Arm nimmt.
„Ja, Onkel Jacob ist ganz toll. Er schenkt mir alles, was ich will.“
„Psssst, Sarah, das sollte doch unter uns bleiben.“
Christopher hebt die Augenbraue. „Aha, so ist das also. Und ich hab mich schon immer gefragt, warum sie so einfach zu beruhigen ist, wenn ich mal zu einem ihrer Wünsche ‚nein’ gesagt habe. Jetzt ergibt das natürlich einen Sinn.“
Wir müssen alle herzlich lachen. Nach und nach spüre ich, wie ich langsam müde werde und Gott sei Dank fällt es den anderen von selbst auf, so dass ich niemanden rauswerfen muss.
„Sobald Ihr zu Hause seid, schauen wir vorbei, ja?“ sagt Marcus und gibt mir und Jayden einen Kuss auf die Stirn. „Macht’s gut, Ihr zwei!“
Jacob und Claudia verabschieden sich ebenfalls, allerdings versprechen sie, morgen wieder zu kommen.

Als wieder Ruhe eingekehrt ist, setzt sich Sarah auf mein Bett am Fußende, von wo aus sie Jayden beobachten kann. Christopher setzt sich ans Kopfende und nimmt mich in den Arm.
„Wie geht’s Dir, Mami?“
Ich lächle ihn an. „Gut, wirklich gut. Die Wunde zieht zwar etwas, aber ich bin so glücklich wie noch nie zuvor.“
„Ich werd Dich jetzt allein lassen. Du brauchst Deinen Schlaf und um ehrlich zu sein, könnte ich auch fast im Stehen schlafen! Sarah, Liebes, ziehst Du bitte Deine Schuhe richtig an? Wir fahren jetzt nach Hause.“
Mir fällt auf, wie selbständig Sarah in diesem einen Jahr geworden ist und stelle fest, dass ich sehr stolz auf sie bin, obwohl ich nicht ihre wirkliche Mutter bin. Christopher küsst mich zum Abschied, streichelt Jayden über den Kopf und dann verschwindet er mit Sarah an der Hand.
„Mach’s gut, Mami!“ ruft mir Sarah noch über die Schulter und ich muss gerührt lächeln.

Fünf Tage später gibt Dr. Johnson das Okay und ich darf endlich nach Hause. Christopher schnallt Jayden geübt im Maxi Cosi fest – da merkt man, dass er das schon mal gemacht hat, während ich Sarah in ihren Sitz helfe. Auf dem Heimweg erzählt er mir, dass er die nächsten Wochen von zu Hause arbeiten wird, damit ich nicht allein mit Jayden bin, denn wegen dem Kaiserschnitt muss ich noch etwas vorsichtig machen. Ich bin ihm mehr als dankbar, dass er sich so um mich sorgt.

Er parkt das Auto, ich nehme Jayden, Sarah ergreift meine andere Hand und Christopher schließt mit meiner Tasche bepackt die Haustür auf. „Überraschung“ schallt es mir entgegen – Gott sei Dank in einer angenehmen Lautstärke, denn der Kleine schlummert gerade. Die halbe Nachbarschaft sowie Freunde von Christopher und Jacob – und mittlerweile auch von mir – haben sich im Haus versammelt, um uns zu begrüßen. Die Frauen sind natürlich gleich bei mir und jeder möchte Jayden mal in die Wangen kneifen. Ich muss grinsen – früher war ich nicht anders. Trotz der Freude bin ich ein wenig überfordert und Nina erkennt es sofort.
„Hey, hey, jetzt lasst Nicky und Jayden erstmal richtig zu Hause ankommen. Außerdem ist das Barbecue fertig und Marcus wartet auf Euch.“
Nach und nach begeben sich die Gäste auf die Terrasse und Christopher bringt meine Tasche samt Jayden nach oben.
„Danke, Nina! Du hast mich gerettet.“ „Gern geschehen, Nicky! Ich kenn das. Man will nicht als Obermutter dastehen, aber trotzdem möchte man seine Kinder etwas Ruhe gönnen – und sich selber auch.“

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