Kapitel 23

Am nächsten Morgen wecke ich die Kleine gegen 7 Uhr. Jacob’s Flieger geht um 2 Uhr nachmittags, was bedeutet, dass wir gegen 11 Uhr losfahren müssen. So richtig passt Sarah das frühe Aufstehen nicht, aber ich erkläre ihr das Warum und dann geht es gleich viel besser. Wir verputzen beide drei Toastscheiben und machen uns dann gegen halb 9 Uhr auf den Weg zu Christopher und Jacob. Als ich die Haustüre aufschließe, herrscht totales Chaos.
„Bro, weißt Du, wo ich meinen scheiß Pass habe? Fuck!“
„Mann, Jay, kannst Du Dir nicht endlich mal angewöhnen, Deine wichtigen Sachen an einem bestimmten Ort gesammelt aufzuheben? Hättest ja weiß Gott auch gestern schon mal suchen können!“
Ich höre Jacob grummeln. „Ey, hör bloß auf, jetzt den großen Bruder zu spielen! Mir tut sowieso schon der Kopf weh von gestern Abend!“
Aus dem Wohnzimmer kann ich Christopher’s Lachen vernehmen. „Du bist eben einfach nichts mehr gewöhnt. Und dabei bist Du der jüngere von uns beiden. Ich glaub, ich muss Dir noch ein bissel was beibringen!“
In diesem Moment kommt Jacob die Treppe herunter und rennt Sarah und mich fast über den Haufen.
„Oh, hallo Ihr zwei.“
Noch bevor ich etwas sagen kann, ist er auch schon im Arbeitszimmer von Christopher verschwunden.
„Jay, da ist er… Oh, guten Morgen, Ihr zwei!“
Er streckt Sarah die Hände entgegen, was die Kleine strahlend erwidert und ihm einen dicken Kuss auf die Wange drückt.
„Schatz, bringst Du Deine Rucksack nach oben und packst ihn aus? Ich komm gleich.“ sagt er zu ihr und schon ist sie nach oben verschwunden.
„Guten Morgen, Süße!“ Sein Kuss nimmt mir mal wieder den Atem. „So sehr mir Jacob fehlen wird“, sagt er, nachdem er mich wieder frei lässt, „ich werde die Zeit mit Dir alleine sehr genießen!“
Meine Augenbraue geht leicht nach oben. „Naja, Du hast aber zwei Mädels im Haus.“
„Ich denke, Emily kann sicher ab und an mal einspringen. Und vielleicht ja auch Nina und Marcus?“ schaut er mich fragend an. „Wann kommen die eigentlich zurück?“
Mir fällt ein, dass ich seit dem Tag vor Christopher’s Unfall nicht mehr mit ihnen telefoniert habe.
„Ich weiß es gar nicht. Mac wollte mich anrufen, bevor sie wiederkommen. Vielleicht sollte ich einfach ihn mal anrufen.“

„Ich hab ihn!“ schreit Jacob aus dem Arbeitszimmer und ich sehe, wie Christopher die Augen verdreht.
„Jay ist echt wie ein kleines Kind. Und wenn er einen Hangover hat, kannste ihn eh total vergessen.“
„Einen Hangover?“ schaue ich ihn mit großen Augen an. „Was habt Ihr denn gestern Abend noch getrieben?“
Christopher lacht mich an. „Ich glaube, Schatz, das willst Du gar nicht wissen. Ist besser so. Aber bevor Du die Krankenschwester spielst – ich habe nur ein Bier getrunken.“
Er kennt mich besser, als ich dachte, denn ich wollte ihn gerade rügen. Jacob und Sarah kommen parallel zu uns.
„Wir können los!“ sagt er und zieht sich parallel schon seine Schuhe an.
„Jetzt mach doch mal halblang, Bro! Wir liegen gut in der Zeit.“
Ich schnappe mir Sarah und ziehe ihr die Schuhe an, während Jacob seinem großen Bruder mit der Jacke hilft.
„Gib mir den Autoschlüssel, Jacob“, bitte ich ihn. „Du hast mit Sicherheit noch Restalkohol im Blut.“
Er schaut mich verlegen an und drückt mir dann den Schlüssel in die Hand.

Eine knappe Stunde später sind wir am Flughafen – der Verkehr war die Hölle. Jacob besorgt einen Wagen und Sarah setzt sich auf seinen Koffer. Nach dem Check-In verweilen wir noch eine Weile zusammen in einem Café, bis der erste Aufruf kommt. Ich fühle mich, als würde er uns für eine ungewisse Zeit verlassen. In meinem Hals bildet sich ein riesiger Kloß. Auch wenn er sich am Anfang unter aller Sau mir gegenüber verhalten hat, ist er mir in den letzten zwei Wochen sehr ans Herz gewachsen. So unterschiedlich die beiden Brüder auch sind, gewissen Verhaltensweisen sind die gleichen und ich denke, genau deshalb habe auch ich ihn lieb gewonnen. Jacob nimmt Sarah auf den Arm.
„Mach’s gut, Engel, und pass mir gut auf Deinen Daddy auf, hörst Du?“
Sie nickt. „Bringst Du mir was mit, Onkel Jacob?“
„Versprochen, Sarah. Ich hab Dir doch bis jetzt immer was mitgebracht.“
Er küsst sie auf die Stirn und setzt sie dann wieder ab. Er schaut mir in die Augen.
„Christopher ist mein ein und alles, Nicky. Ich verlass mich auf Dich, dass Du ihn gut versorgst, ja?“
„Natürlich, Jay! Du weißt, dass Du nicht der einzige bist, dem er viel bedeutet!“ Jacob drückt mich fest und nimmt dann seinen Rucksack.
„Kommst Du noch ein Stück mit, Bro?“
„Wollte ich sowieso“, erwidert Christopher und die beiden gehen zum Security Check.
Sarah und ich bleiben zurück. Ich nehme sie an die Hand und wir beide schauen ihnen hinterher.
„Aber Daddy fliegt nicht mit, oder?“ sagt die Kleine leicht besorgt und drückt meine Hand fester.
„Nein, nein, Sarah. Er bringt Onkel Jacob nur noch ein Stück. Er ist gleich wieder bei uns.“

Ich sehe, wie die Brüder noch kurz etwas bereden. Was auch immer es sein mag, beide machen ernste Gesichter und plötzlich schauen mich vier Augen an. Nur für ein oder zwei Sekunden, aber in diesem Moment weiß ich, dass es um mich geht. Dann umarmen sie sich, Jacob lässt sich kontrollieren und winkt uns dann nochmal. Ich nehme Sarah auf den Arm, damit sie ihn besser sehen kann. Christopher kommt zurück zu uns und nimmt mich in den Arm.
„Na komm, lass uns unsere kleine Bruder-freie Zeit genießen!“ Er drückt mir einen Kuss auf die Wange und wir laufen zurück zum Auto.

Kaum sind wir zu Hause angekommen, klingelt auch schon mein Handy: Marcus.
„Hey, Nicky. Wie geht’s Dir?“
„Ähm, hi! Mir geht’s prima. Ach übrigens: happy new year!“
„Das wünsche ich Dir auch, Schatz. Sag mal, geht’s Dir auch wirklich gut? Nach den ganzen… Dingen, die passiert sind?”
Ich muss über seine Besorgnis für mich schmunzeln.
„Es ist eine Menge passiert, während wir das letzte Mal gesprochen haben, Mac, und es mag jetzt vielleicht blöd für Dich klingen, weil Du die Zusammenhänge nicht kennst, aber seit dieser Zeit ging es mir Tag für Tag besser. Aber jetzt zu Dir. Ich kenn Dich doch: Du rufst nur an, wenn Du was willst. Ihr wisst jetzt, wann Ihr landet und ich soll Euch abholen, richtig?“
Ich höre sein Lachen am anderen Ende. „Ich werde es wohl nie schaffen, Dich auszutricksen, oder?“
„Mac, ich bitte Dich! Was erwartest Du nach 30 Jahren Freundschaft? Also, wann kommt Ihr?“
Marcus ruft nach Nina – typisch, er hat mal wieder nichts im Kopf.
„Aaaaalso. Wir kommen in zwei Tagen an. Wir landen um halb 2 Uhr nachmittags, aber ich denke, vor 2 Uhr brauchst Du nicht am Flughafen zu sein. Wir haben es noch nie erlebt, dass die Flüge aus Deutschland pünktlich waren.“
„Geht klar. Dann bin ich übermorgen um 2 Uhr am Flughafen. Ähm, Marcus? Ich wollte Dir nur sagen, dass ich vorübergehend bei Christopher wohne.“
Am anderen Ende höre ich… nichts. Für einen Moment scheint Marcus der Atem zu stocken.
„Bei Christopher? Ich meine, bei Christopher und… Jacob?! Was zum Teufel ist denn in den paar Tagen passiert, dass Du jetzt bei ihnen wohnst?“
Ich hole tief Luft. „Okay, Mac. Kurzfassung: Christopher hatte einen Unfall, im Krankenhaus habe ich mich mit Jacob ausgesprochen, Christopher und ich sind jetzt… naja, also… wir sind jetzt offiziell zusammen und Jacob ist eben in die USA geflogen – für ca. drei bis vier Wochen.“
„Wiiiiiiiieeeeeee bitteeeeeeeeee? Christopher hatte einen Unfall? Und eine Aussprache hat das, was Jacob angerichtet hat, wieder aus der Welt geschafft?“
Augen rollend setze ich an. „Marcus, es würde jetzt eine Ewigkeit dauern, Dir das alles am Telefon zu erzählen. Glaub mir einfach, wenn ich Dir sage, es ist alles geregelt und alle Seiten sind wieder miteinander und mit sich im reinen. Sobald Ihr hier seid, werde ich Euch alles genau erzählen, ok?“
„Okay, aber was war jetzt mit dem Unfall? Wie geht es Christopher? Bitte – wenigstens das noch!“
Ich kann nicht glauben, dass er sich solche Sorgen macht – um Christopher!
„Er hatte einen Autounfall, aber er hatte verdammtes Glück gehabt. Er konnte nach nur fünf Tagen wieder nach Hause und seit gestern kümmere ich mich jetzt um ihn. Er hat einen Arm im Gips und zwei gebrochene Rippen, die aber auch sehr gut heilen. Also wie gesagt: Glück im Unglück.“
„Naja, Nicky, ich würde sagen, dass da auch noch ein bisschen ein Schutzengel mit dabei war und ich kann mir auch vorstellen, wer das war. Aber ich will Dich jetzt nicht weiter aufhalten. Wir sehen uns dann in zwei Tagen, ja? Und sag Christopher einen lieben Gruß und gute Besserung. Ach ja, und was Jacob anbelangt – diesbezüglich möchte ich auch einen ausführlichen Bericht, denn eigentlich hatte ich mich schon auf eine gehörige Auseinandersetzung mit ihm eingestellt. So was macht niemand mit meiner Nicky.“
„Gut zu wissen“, antworte ich ihm, „dass Du das für mich tun würdest, aber es ist nicht mehr nötig! Also dann, mach’s gut und einen guten Flug! Ich freu mich auf Euch!“
Ich lege auf und gehe zu Christopher ins Wohnzimmer. Endlich zu Hause, endlich – fast – allein mit ihm!

* * * * * *

Während den nächsten zwei Tagen beginnen Christopher, Sarah und ich, Routine in den Alltag zu bringen. Vorerst quartiere ich mich im Gästezimmer ein, damit Christopher nachts seinen Arm auf die Seite legen kann und nicht Gefahr läuft, darauf zu schlafen und sich damit weh zu tun. Obwohl ich normalerweise ein Langschläfer bin, wache ich doch immer sehr zeitig auf, so dass ich mich zuerst um mich und dann um Christopher kümmern kann. Sarah ist trotz ihrer vier Jahre insoweit eine Hilfe, als dass sie sich selbst anziehen kann und mir beim Tisch decken hilft.

Es ist ungewohnt, den sonst so starken Christopher jetzt teilweise so hilflos zu sehen. Mir war zwar klar, dass er ein kleiner Sturkopf ist, aber ich bin doch überrascht, als ich ihn beim ersten gemeinsamen Anziehen helfe.
„Nicky, es ist zwar lieb, dass Du mir so helfen willst, aber ich bin kein kleines Kind! Ich kann das alleine!“ murrt er mich leicht an.
„Ach ja?“ Ich ziehe meine Augenbraue hoch. „Na dann zeig mal, was Du kannst!“
Mit verschränkten Armen setze ich mich auf’s Bett und schaue ihn erwartungsvoll an. Die Boxershorts anzuziehen ist keine Kunst, denke ich mir, aber ich bin gespannt, wie das mit dem Shirt und der Hose läuft. Es dauert keine fünf Minuten und ich beginne zu schmunzeln. Christopher’s Jeans hat es zwar bis über seinen knackigen Po geschafft, aber noch ist der Knopf offen und das Shirt hängt auf halb acht.
„Also wenn Du so mit Deinem Auftreten zufrieden bist, dann brauchst Du wirklich keine Hilfe von mir.“ grinse ich ihn an.
Mit grimmigem Blick schaut mich Christopher an. „Okay, okay, Du hast gewonnen! Und jetzt hör auf zu grinsen und hilf mir!“
Wir beide müssen lachen und ich gehe zu ihm. Zuerst helfe ich ihm mit seinem Gipsarm in den zweiten Ärmel, so dass das Shirt anständig sitzt. Dann kümmere ich mich um den Knopf und den Reißverschluss seiner Jeans, als er plötzlich mit seinem Kopf ganz nah an mein Ohr kommt.
„Eigentlich wär’s mir ja lieber, Du würdest die Jeans wieder ausziehen, als sie zuzumachen.“
Ich hebe meinen Kopf, so dass ich ihn anschauen kann. „Das hättest Du wohl gern, was? Aber erst die Arbeit, dann das Vergnügen.“
Er schaut mich überrascht an: „Arbeit?“
„Also bitte, Chris! Sollen ich und Deine Tochter verhungern? Wir wollen Frühstück und da Du ja noch einen Arm zur Verfügung hast – und dazu noch den rechten –, kannst Du uns dabei auch helfen.“
Leicht beschämt schaut er mich an. „Und wann gibt’s dann das Vergnügen?“
„Je nachdem, wie brav Du gegenüber Deiner Krankenschwester bist.“ lächle ich.
In diesem Moment kommt Sarah ins Schlafzimmer.

„Daddy, Nicky, seid Ihr endlich fertig? Ich hab Hunger!“
„Schon gut, mein Schatz“, beschwichtigt Christopher sie. „Wir kommen ja schon. Irgendwelche besonderen Wünsche?“
Die Kleine schaut mich fragend und gleichzeitig auch erwartungsvoll an und ich verstehe sofort.
„Ich denke, ich werde ein paar Pancakes machen. Was haltet Ihr zwei davon?“
„Au ja, fein!“ hüpft Sarah die Treppen nach unten und Christopher nickt.
Bevor ich die erste Treppe nach unten treten kann, hält er mich zurück und nimmt mich in den Arm.
„Danke, Nicky! Danke, dass Du Dich so um uns kümmerst. Um mich und deswegen auch um Sarah. Ich weiß nicht, wie ich mich je dafür revanchieren kann.“
„Christopher, ich liebe Dich und Sarah, deswegen mache ich das sehr gerne. Und was das Revanchieren anbelangt: vielleicht solltest Du Emily fragen, ob sie heute Nachmittag auf Sarah aufpassen kann.“
Seine Augen werden ganz groß. „Heute Nach…“
Ein lautes Rufen hindert ihn am Weitersprechen. „Huuuuuuuuuunger!“
„Wir kommen schon, Sarah! Dein Daddy ist kein junger Hüpfer mehr, der braucht etwas länger!“
Christopher kneift mich in die Seite und ich grinse ihn an.

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