Kapitel 39

Ein paar weitere Wochen später laden wir zum Barbecue. Noch immer sind nur Christopher und die Mädels eingeweiht – Jacob und Marcus sind weiterhin völlig ahnungslos. Nach dem Essen, als wir gerade zum gemütlichen Teil übergehen, steht Christopher auf.
„Wir wollten Euch noch etwas sagen. Das heute ist nicht nur ein normales Barbecue unter Freunden. Nicky und ich haben etwas zu verkünden.“
Marcus und Jacob machen riesige fragende Augen, während Nina und Claudia leicht schmunzeln. Auch Sarah und Mathilda sitzen mucksmäuschenstill da und schauen Christopher an, was mich zum lächeln bringt.
„Bro, jetzt hör auf, es so spannend zu machen und spuck’s endlich aus. Du weißt, dass ich so was hasse!“
Christopher hebt beschwichtigend die Hände. „Ist ja schon gut, Jay! Dann halt kurz und schmerzlos: in sechs Monaten wirst Du zum zweiten Mal Onkel!“
Jacob’s Mund steht sperrangelweit auf, während Marcus’ Augen immer größer werden. Mathilda durchbricht als erstes die Stille.
„Und was heißt das jetzt?“
Nina fängt an zu lachen. „Schatz, das bedeutet, dass Sarah eine kleine Schwester oder einen kleinen Bruder bekommt.“
Sarah springt auf und rennt zu Christopher und mir. „Juhu! Ich bekomme ein Geschwisterchen!“
Marcus kommt zu mir und umarmt mich. „Nicky, ich kann nicht in Worte fassen, wie sehr ich mich für Dich und natürlich auch für Christopher freue!“
Während er mich im Arm hat, kann ich über seine Schulter hinweg Christopher sehen, der Jacob beobachtet. Dieser schaut noch immer völlig fassungslos und ich kann es nicht deuten. Anscheinend geht es Christopher nicht anders.
„Jay, Bro, alles klar?“
Er geht zu seinem kleinen Bruder, der plötzlich aufspringt.
„Chris, ich… ich… Gott… ich kann nicht sagen, was ich grad empfinde! Nenn es… nenn es… ach, fuck… Lass Dich drücken!“
Er umarmt Christopher stürmisch, so dass dieser kaum weiß, wie ihm geschieht. Als sich die beiden wieder lösen, haben sowohl Jacob als auch sein großer Bruder Tränen in den Augen.
„Das muss begossen werden – mit Sekt und frisch gepresstem Orangensaft für die Schwangeren unter uns!“
Der Abend wird sehr ausgelassen und über etwas anderes als Babies und allem was dazu gehört, reden wir nicht mehr.

* * * * *

Die nächsten Monate vergehen wie im Fluge und mein Bauch wächst und wächst. Abends liegt Christopher immer auf meinem Schoß und streichelt meinen Unterleib.
„Ich kann immer noch nicht fassen, dass Du mir ein Kind schenkst, Nicky!“

Als wir wieder einmal bei der Ärztin sind, um einen weiteren Ultraschall machen zu lassen, erfahren wir auch das Geschlecht.
„Sehen Sie das hier?“
Christopher und ich schauen auf den Monitor, wo man schon sehr gut alles sehen kann. Er grinst.
„Ich würde mal sagen, ich bekomme Verstärkung!“
„Genau, Mr. Lawson“, antwortet Dr. Johnson. „Es wird ein kleiner Junge.“
Auf dem Nachhauseweg fahren wir bei Jacob im Büro vorbei und erzählen ihm die Neuigkeit.
„Ha, dann passt es ja perfekt!“
Christopher und ich schauen uns verdutzt an.
„Was passt perfekt?“ frage ich ihn.
„Naja, jetzt, da Ihr wisst, was es wird, könnt Ihr Euch einen Namen überlegen und ich hab Euch ein kleines Geschenk besorgt.“
Jacob drückt seinem großen Bruder ein kleines Päckchen in die Hand. Als Christopher es ausgepackt hat, kommt ein Buch mit Babynamen zum Vorschein. Ich schmunzele Jacob an.
„Ja, das passt wirklich perfekt, denn seit dem Besuch vorhin beim Arzt zerbreche ich mir schon den Kopf.“
Wir verabschieden uns nach einer kurzen Unterhaltung von ihm und fahren nach Hause. Sarah freut sich riesig über ein kleines Brüderchen.
„Eine Schwester habe ich ja schon irgendwie!“
„Was meinst Du damit, mein Schatz?“ fragt sie ihr Daddy und auch ich schaue sie überrascht an.
„Naja, Mathilda halt.“
Ich bin so gerührt, dass es mir fast Tränen in die Augen treibt. Wahrscheinlich sind das auch ein bisschen die Hormone.

Die nächsten Tage verbringen wir abends immer auf der Couch. Emily’s Mutter hat uns ebenfalls ein Babynamen-Buch geliehen und wir studieren jede einzelne Seite. Schon verrückt, was es doch für Vorschläge gibt und teilweise lachen wir uns echt kaputt. Nach ca. einer Woche und vielem Hin und Her haben wir uns dann doch endlich entschieden. Wir hatten vereinbart, dass jeder seine Top Five auf eine Liste schreibt und dann werden die Zettel getauscht. Witzigerweise hatten wir jeweils zwei gleiche und einer dieser beiden hatte es uns auch angetan. Also gab es keine Frage: dieser Name und kein anderer.
„Was hältst Du davon, dem Krümel einen zweiten Namen zu geben? Kein Doppelname, einfach nur ein weitere Vorname?“
Ich schaue ihn fragend an. „Und woran hattest Du dabei gedacht?“
Er nimmt meine Hände in seine starken und schaut mir tief in die Augen.
„Ich weiß, dass Dein Opa als Dein Schutzengel immer bei Dir ist, aber wie wäre es, wenn er auch mit seinem Namen immer bei uns ist?“ Mehr als einen Kuss kann ich Christopher als Antwort nicht geben und er weiß es zu deuten: Ja, Schatz, liebend gerne!

Eines Morgens sitzen Christopher, Sarah und ich gerade beim Frühstück, als das Telefon klingelt.
„Nicky!“ kreischt Marcus aufgeregt in den Hörer, als ich den Anruf entgegennehme. „Ich bin im Krankenhaus! Unsere kleine Tochter ist da!“
„Oh mein Gott, Mac, das ist ja wunderbar! Zwei Wochen zu früh, wenn ich mich recht erinnere.“ antworte ich und Christopher begreift sofort.
„Ja, aber beiden geht es gut! Könntet Ihr mir vielleicht einen Gefallen tun?“
„Klar“, antworte ich eifrig. „Schieß los!“
Marcus erklärt mir, dass er gestern Abend, als bei Nina die Wehen eingesetzt haben, seine Nachbarin gebeten hat, über Nacht bei ihnen im Haus zu bleiben, weil sie Mathilda nicht wecken wollten.
„Wärt Ihr so lieb und holt Mathilda ab. Wenn Ihr ins Krankenhaus kommen wollt, bringt sie mit, ansonsten wär’s toll, wenn sie heute bei Euch bleiben könnte.“
„Natürlich, wir kümmern uns sofort darum und holen sie ab. Und Du kannst Gift drauf nehmen, dass wir danach gleich zu Euch kommen.“
„Danke, Nicky! Du bist ein Schatz!“
Ich muss lächeln. „Ich könnte mir vorstellen, dass Du Dich vielleicht in nächster Zukunft revanchieren kannst.“
Er versteht den Wink.

Christopher hat bereits den Frühstückstisch abgeräumt und Jacob angerufen, so dass er bescheid weiß.
„Sarah, holst Du bitte Deine Jacke? Wir holen jetzt Mathilda und fahren dann zu ihrer kleinen Schwester, ja?“
„Au fein!“ jauchzt sie und verschwindet nach oben.

Gut eine Stunde später sind wir im Krankenhaus bei Marcus, Nina und dem kleinen Knirps.
„Hallo, Nina!“ begrüße ich sie und gebe ihre eine herzliche Umarmung. „Wie geht’s Dir?“
„Alles bestens!“ erwidert sie. „Lief einfacher als bei Mathilda!“
Sie kann in meinen Augen meine Neugier lesen. „Willst Du sie sehen, Nicky?“
Mehr als aufgeregt nicken kann ich nicht.
„Marcus…“
Marcus schiebt den kleinen Wagen aus der ruhigen Ecke zu ihr ans Bett und ich schaue in tiefbraune Augen, die mich interessiert anschauen.
„Du kannst sie gern rausnehmen, die Kleine ist ziemlich aufgeweckt.“
Als ich die Kleine auf dem Arm habe, überkommt mich ein eigenartiges Gefühl – Vorfreude. Christopher schaut mich an und seine Augen strahlen.
„Steht Dir wirklich gut!“ sagen er und Marcus fast zeitgleich und wir lachen leise.
„Kann ich auch mal sehen?“ fragt mich Sarah leise und ich setze mich in einen Stuhl, so dass sie sich neben mich stellen kann.
„Wie heißt sie denn eigentlich?“ frage ich.
„Josephine“, sagt Marcus hinter mir.
„Hallo Josephine! Willkommen im Leben!“ flüstere ich der Kleinen ins Ohr.

Wir bleiben nur knapp eine Stunde und fahren dann wieder zusammen mit Mathilda nach Hause.
„Ihr könnt Mathilda so lange bei uns lassen, wie Ihr wollt!“ sagt Christopher beim Abschied. „Und wenn Ihr sonst was braucht, meldet Euch einfach!“
Nina und Marcus nehmen das Angebot dankend an. Auf dem Nachhauseweg schnattern Sarah und Mathilda auf den Rücksitzen ununterbrochen und machen schon Pläne mit Josephine. Christopher und ich lächeln uns einfach nur an.

Drei Tage später ist Nina wieder zu Hause und Marcus holt Mathilda ab. Sie und Sarah waren so ein eingespieltes Team und solche Energiebündel, dass es jetzt richtig ungewohnt ist, wieder mehr Ruhe zu bekommen. Allerdings ist es für mich auch eine Entlastung, machen mir doch in letzter Zeit die Fußballertritte von dem Krümel in meinem Bauch ganz schön zu schaffen.

Christopher hat sich in den letzten Wochen sehr mit Kinderzimmern auseinandergesetzt – er hat Abend für Abend etliche Internetseiten und Kataloge gewälzt und mir seine Vorschläge erklärt. Er geht richtig auf in dieser Rolle und kann es gar nicht erwarten, endlich kreativ zu werden. Heute ist Samstag und Christopher wartet ungeduldig auf Jacob, mit dem er sich zu einem großen Baumarkteinkaufsbummel verabredet hat.
„Denk dran, Schatz! Wir haben nur ein Kinderzimmer zu gestalten, also kauf nicht den ganzen Laden leer, hörst Du?“ sage ich ihm, als er schon fast aus der Tür ist.
Er kommt zurück und gibt mir einen Kuss. „Versprochen… Mami!“
Zum ersten Mal in den vergangenen sechs Monaten nennt er mich ‚Mami’ und ich bin davon so überwältig, dass ich tief Luft holen muss. Natürlich hatte ich es von Sarah schon des öfteren in der Vergangenheit gehört, aber von Christopher hat es eine ganz andere Wirkung auf mich.
„Jay, halt Deinen Bruder bitte davon ab, einen Laster voll zu laden, okay? Ich hab da so meine Befürchtungen!“
Jacob winkt mir zu und legt seine Hand auf’s Herz: Ich pass auf ihn auf, Nicky! Ich schaue den beiden noch nach, bis sie hinter der nächsten Abbiegung verschwunden sind.

Sarah ist im Garten und spielt in der Juli-Sonne, während ich mich auf der Terrasse im Schatten niederlasse. Die Hitze in Toronto macht mir mit der Kugel vor meinem Körper ganz schön zu schaffen und mir macht es etwas Angst, noch drei Monate in der Hitze damit zu überstehen. Hätten wir mal besser geplant, denke ich und muss lächeln. Ich spüre wieder, wie man mich von innen tritt und klopfe mit den Fingern auf den Bauch.
„Na, na, nicht so stürmisch!“ sage ich. „Lass Deiner Mami mal etwas Luft zum atmen!“
Als mir die Mittagshitze eindeutig zu viel wird, gehe ich hinein. Es wird sowieso Zeit, das Essen für Sarah und mich zu machen. Christopher hatte mir schon gesagt, dass er wohl länger unterwegs sein wird, so dass ich für uns Mädels nur etwas Leichtes eingeplant hatte. Ich beginne gerade, den Salat zu schneiden, als mir ein unendlich starker Schmerz in den Unterleib fährt. Ich muss mich an der Arbeitsplatte festhalten, um nicht augenblicklich zusammen zu klappen und fasse mit der anderen Hand an meinen Bauch. Was war denn das zum Teufel? Ich hole ein paar Mal tief Luft und merke, wie sich meine Muskeln langsam wieder entspannen. Doch keine zwei Minuten später passiert es wieder – diesmal mit einer Wucht, die mich von den Füßen reißt. Ich klappe zusammen und liege hilflos auf dem Küchenfußboden. Ich bekomme kaum Luft, mein Unterleib schmerzt wie wild und ich spüre, wie mir schummrig wird. Durchhalten, jetzt nicht schlapp machen! In meinem Hirn arbeitet es. Mit letzter Kraft rufe ich Sarah. Als sie herein gerannt kommt, reißt sie sofort die Augen auf.
„Nicky, was…?“
Ich falle ihr ins Wort. „Sarah, nimm bitte das Telefon, drücke auf die sieben und rufe Onkel Marcus an. Sag ihm, er soll sofort herkommen, weil ich Aua habe. Schnell, Liebes!“
Ich kann Sarah im Wohnzimmer hören, wie sie ihm erklärt, dass ihr Daddy nicht da ist und ich auf dem Fußboden liege. Keine zwei Minuten später sitzt sie neben mir und streichelt mir den Arm, während mir vor Schmerz Tränen die Wangen herunter laufen. Ich spüre immer mehr, wie mein Kreislauf schlapp macht, aber ich zwinge mich, Sarah anzuschauen, um wenigstens so lange wach zu bleiben, bis Marcus hier ist. Irgendwann merke ich, wie meine Augenlider schwer werden und kurz bevor ich vollends ohnmächtig werde, höre ich Marcus’ Stimme, auf die ich aber schon nicht mehr reagieren kann.

Ich komme im Krankenwagen wieder zu mir, als man mir gerade die Sauerstoffmaske überstreift.
„Was… was ist passiert?“ Ich brauche einen Moment, um mich zurecht zu finden.
„Sie sind zusammen geklappt, Miss!“ antwortet der Sanitäter, der sich um mich kümmert.
Als ich meinen Kopf etwas drehe, sehe ich Marcus, der ängstlich neben mir sitzt.
„Nicky, was machst Du nur für Sachen?! Ich hab mir solche Sorgen gemacht!“
Mehr als mit den Schultern zucken kann ich nicht.
„Wir bringen Sie jetzt ins Mount Sinai Hospital, Miss. Ihr Bekannter sagte uns, dass Sie dort sowieso entbinden wollen.“
Plötzlich fällt mir Sarah ein. „Wo ist Sarah?“ frage ich aufgeregt und stütze mich auf meine Ellenbogen.
Der Sanitäter drückt mich sanft wieder auf die Liege. „Keine Sorge, Ihre Tochter sitzt vorne im Wagen.“

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