Kapitel 27

Kaum sind wir im Krankenhaus, mache ich die Schwester in der Notaufnahme fast verrückt.
„Es ist ein Notfall, verdammt nochmal!“ schreie ich sie beinahe an. „Er hatte vor einer guten Woche eine OP und jetzt ist sein Verband blutgetränkt.“
Sie verdreht die Augen, was mich noch wahnsinniger macht. „Schon gut, Miss! Folgen Sie mir bitte.“
Christopher hakt sich bei mir ein und ich nehme Sarah an die andere Hand. In einem Behandlungszimmer werden wir allein gelassen. Als ich Christopher im Sitzen sehe, wie er immer wieder tief ein- und ausatmet und sein Gesicht sich verzerrt, schlage ich ihm vor, sich gleich komplett auf die Liege zu legen.
„Das entspannt sicher Deine Muskeln etwas, Chris.“
Es dauert Gott sei Dank nur fünf Minuten, die mir aber wie fünf Stunden vorkommen, als auch schon der Arzt auftaucht. Dem Himmel sei Dank – Dr. Richardson hat Dienst.
„Hallo, Miss Fischer, Hallo, Mr. Lawson. Die Schwester sagte mir, dass Sie Blut auf dem Brustverband sehen?“
Ich nicke und ziehe Christopher’s Shirt hoch. „Ich habe vorhin einen Extraverband notdürftig angelegt.“ antworte ich.
Dr. Richardson schneidet meinen und dann den professionellen Verband auf und ich bin geschockt – Blut ohne Ende.
„Vielleicht sollten Sie mit der Kleinen rausgehen, Miss. Ich sage Ihnen gleich bescheid.“
Obwohl ich lieber bei Christopher bleiben will, versehe ich, was er meint. Sarah braucht das nicht zu sehen.
„Komm mit, Sarah! Wir holen uns erstmal was zu trinken. Dein Daddy ist bei Dr. Richardson in guten Händen.“
Sie schaut noch einmal zurück und Christopher quält ein Lächeln heraus.

Aus dem Automaten ziehe ich zwei Flaschen Schorle und wir setzen uns auf den Gang. Ich hasse den Geruch des Krankenhauses und hoffe inständig, dass wir hier schnell wieder rauskommen.
„Nicky, bin ich schuld?“ fragt mich plötzlich Sarah und schaut mich ängstlich an.
„Wie kommst Du denn darauf, Sarah?“
Sie senkt den Kopf und ich nehme sie in den Arm.
„Ich glaube, ich hab ihm weh getan, als ich bei ihm im Bett lag. Ich bin zu ihm gekrabbelt und dabei auf seinen Bauch gekommen.“
Ich kann nicht fassen, dass sich die Kleine mit ihren vier Jahren solche Gedanken macht.
„Natürlich ist es nicht Deine Schuld, Sarah! Weißt Du, so was passiert manchmal einfach. Du hast Dich doch bestimmt schon mal gestoßen und dann hat es geblutet, richtig? Und wenn man dann nicht aufpasst, kann es passieren, dass es später wieder mal blutet, oder?“
„Aber doch nur, wenn ich kratze. Erst dann fängt es wieder an.“
Eine einzige Träne kullert über ihre Wange und ich ziehe sie zu mir auf den Schoß.
„Schatz, es ist nicht Deine Schuld, hörst Du. Dein Daddy hat ein viel größeres Aua und da muss man nicht kratzen, da passiert das einfach von ganz alleine. Wir sind einfach in Zukunft ganz vorsichtig und passen auf, dass Dein Daddy auch wirklich ganz langsam macht, ja? Ab jetzt hat er zwei Krankenschwestern. Und jetzt lächele wieder für mich.“
Ich gebe ihr einen Kuss auf die Stirn und sie vergräbt ihr Gesicht an meiner Schulter. In Gedanken überlege ich, ob ich Jacob anrufen soll. Immerhin hat er mich gebeten, ihn bezüglich Christopher’s Gesundheitszustand auf dem Laufenden zu halten, aber bevor ich nicht weiß, was mit ihm ist, sollte ich Jacob nicht unnötig beunruhigen. Also konzentriere ich mich vorerst auf das Hier und Jetzt.

In diesem Moment geht die Tür auf und Dr. Richardson kommt zu mir.
„Miss Fischer, es ist schlimmer, als es aussieht. Lediglich die Wunde ist aufgegangen, aber innerlich ist nichts passiert. Wahrscheinlich hat er sich irgendwie übernommen und seinen Oberkörper zu sehr angespannt. Ich habe den Schnitt neu vernäht und die Schwester legt ihm jetzt noch einen frischen Verband an. Aber es war richtig, dass sie gleich gekommen sind. Passen Sie auch in Zukunft so gut auf ihn auf, dann wird es keine Probleme geben. Ich habe gesehen, dass die Wunde jetzt schon viel kleiner geworden ist.“
Hätte ich Sarah nicht auf dem Schoß, würde ich ihm glatt um den Hals fallen, so ein großer Stein fällt mir vom Herzen. Ich stehe auf, Sarah auf dem Arm und strecke ihm meine linke Hand entgegen.
„Vielen Dank, Dr. Richardson. Ich verspreche Ihnen, dass sich nun zwei Krankenschwestern um ihn kümmern werden.“
Er strahlt Sarah an, die langsam wieder fröhlich wird.
„Sobald die Schwester fertig ist, gibt Sie Ihnen bescheid. Warten Sie bitte solange noch hier.“
Ich nicke und schon ist er in einem anderen Behandlungszimmer verschwunden.

Zehn Minuten später geht die Tür auf und Christopher kommt zusammen mit der Krankenschwester heraus.
„Ich habe Mr. Lawson noch eine Schmerztablette gegeben. Das Laufen wird ihm nun nicht mehr so schwer fallen. Ich gebe Ihnen zur Sicherheit noch eine Packung mit, Sie sollten ihm aber nur eine geben, wenn es gar nicht anders geht.“
„Alles klar, danke!“ antworte ich ihr, doch mein Blick haftet nur auf Christopher.
Er sieht wieder so hilflos und gebrechlich wie am ersten Tag nach der OP aus und am liebsten würde ich ihn in den Arm nehmen und somit seine Schmerzen für ihn ertragen.
„Geht’s einigermaßen, Chris?“
Er nickt und versucht ein Lächeln, was man aber nur erahnen kann.
„Lass uns nach Hause fahren, Nicky.“
Ohne Vorwarnung fasst er mich am Arm und küsst mich. Mit großen Augen schaue ich ihn an und lächele.
„Wofür war…“
Er lässt mich nicht ausreden. „Wenn Du nicht gewesen wärst… Wer weiß, was…“
Ich kann ahnen, was er sagen will und lege deshalb meinen Finger auf seine Lippen.
„Stopp, so was will ich nicht hören! Lass uns fahren.“
„Daddy, geht’s Dir gut?“
Sarah schaut zu ihm nach oben und streichelt mit ihren Fingern über seinen Handrücken.
„Wenn ich Dich sehe, mein Engel, dann geht’s mir immer gut.“
Er spürt, dass sie sich nicht traut, in richtig anzufassen, also ergreift er die Initiative und nimmt sie an der Hand, was ihre Augen zum strahlen bringt.

Als wir zu Hause sind, bringe ich zuerst Sarah ins Bett, während Christopher ins Schlafzimmer geht.
„Mach Dir keine Sorgen, Sarah. Deinem Daddy geht’s gut und jetzt schlaf.“
Sie ist mit meinen letzten Worten zufrieden und kuschelt sich in ihre Decke. Christopher sitzt auf der Bettkante und schaut an sich herunter.
„Das heißt wohl, dass wir die Schlafsituation noch eine Weile so beibehalten müssen, oder?“
Ich setze mich neben ihn und streichle seine Hand.
„Wenn wir uns ganz strikt daran halten, bist Du vielleicht schneller fit, als Du denkst.“
Er lächelt mich an.
„Ach ja, und noch eins, Christopher. Ich glaube, wir sollten noch was anderes für eine Weile vergessen.“
Ich ziehe meine Augenbraue hoch und er versteht.
„Ich weiß nicht, ob ich das wirklich aushalte. Aber ob es mir gefällt oder nicht, ich denke, Du hast recht damit.“
Ich helfe ihm beim Ausziehen, wir belassen es aber dabei, ihm nur seine Pyjamahose anzuziehen. Als er sich in sein Bett gequält hat, streiche ich ihm ein paar Strähnen aus seiner Stirn und gebe ihm einen Kuss.
„Schlaf gut, Schatz. Ich liebe Dich und bin für Dich da – wann immer Du mich brauchst.“
Er lächelt als Antwort und dann gehe ich nach unten ins Gästezimmer und lege mich erschöpft ins Bett. Es ist mittlerweile halb drei Uhr morgens, doch in meinem Kopf arbeitet es immer noch und ich komm einfach nicht zur Ruhe. Das letzte Mal schaue ich um vier Uhr an den Wecker, bis ich endlich einschlafe. Was ein Tag – oder sollte ich eher sagen: was für eine Nacht!

* * * * *

In den nächsten Wochen werden wir nach und nach ein recht eingespieltes Team. Ich kümmere ich mich um den Haushalt und natürlich um Christopher und Sarah und er versucht sich zu schonen, was ihm aber sichtlich schwer fällt. Marcus und Nina besuchen uns am Wochenende, was besonders Sarah freut, denn dadurch hat sie jemanden zum spielen. Ihre anderen Freunde sind noch in den Ferien und wir können uns nicht die ganze Zeit mit ihr beschäftigen. Ab und an nehmen mir Nina und Marcus die Kleine ab und unternehmen etwas mit ihr, so dass Christopher und ich dann etwas ungestört sind. Allerdings halten wir uns weiterhin zurück, was den Sex anbelangt, denn ich habe noch immer Angst, dass sich die Wunde wieder öffnen könnte.

Eines Morgens stehe ich gerade in der Küche, um das Mittagessen vorzubereiten, als ich aus dem ersten Stock ein Poltern vernehme. Ich renne nach oben und sehe Christopher neben dem Bett sitzen – oder eher halb liegen.
„Christopher, was ist denn passiert?“
Meiner Stimme kann man anmerken, dass ich mir Sorgen mache.
„Ach, nichts weiter. Ich hab nur die Balance verloren, als ich in die Jeanshose schlüpfen wollte. Halb so schlimm.“
„Halb so schlimm? Chris, da hätte sonst was passieren können! Ich hab Dir doch gesagt, dass Du mich bei so was immer rufen sollst.“
Ich will ihm gerade beim Aufstehen helfen, als er mich zur Seite schubst.
„Ich kann das auch alleine, verdammt nochmal!“ fährt er mich an. „Ich bin kein kleines Kind! Dieses Bemuttern… ich kann das nicht mehr! Das geht mir einfach tierisch auf den Zeiger! Dann hätte ich auch gleich im Krankenhaus bleiben können!“
Ich bin wie vor den Kopf gestoßen. „Aber… aber ich will doch nur das Beste für Dich, damit Du schnell wieder auf die Beine kommst. Du hast doch den Arzt…“
„Der Arzt kann mich mal!“ unterbricht er mich. „Ich bin ein erwachsener Mann. Ich brauch seine Ratschläge nicht. Und ich brauch Dich nicht – ich kann selbst auf mich aufpassen.“
Mir stockt der Atem. Für einen Moment ist es still, während Christopher sich am Bett nach oben zieht und sich dann hinsetzt. Ich spüre, wie sich meine Augen mit Tränen füllen und ein Kloß beginnt, in meinem Hals zu wachsen.
„Dann…“ meine Stimme zittert. „Dann kann ich ja gehen, wenn Du mich nicht brauchst.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, mache ich auf dem Absatz kehrt, renne nach unten, schnappe mir meine Sachen und verlasse das Haus. Ich laufe die Straße hinunter bis zur großen Kreuzung, wo immer Taxis stehen und lasse mich auf dem Rücksitz nieder.
„Wohin, Miss?“ fragt mich der Fahrer.
Ich gebe ihm Marcus’ Adresse und dann kann ich meine Gefühle nicht mehr unterdrücken. Mir laufen die Tränen die Wangen hinunter und immer wieder höre ich Christopher’s Worte in meinem Kopf: ‚Ich brauch Dich nicht!’ Es hat mich zutiefst verletzt, das aus seinem Mund zu hören. Wieso versteht er nicht, dass ich ihm nur helfen will? Wieso ist er so ein Sturkopf? Oder… Plötzlich bekomme ich Angst. Oder hat er jetzt nach diesen Wochen des Zusammenlebens gemerkt, dass es mit uns beiden… Mein Kloß im Hals wird größer und größer. Ich liebe Christopher und ich will ihn nicht verlieren, aber… Vielleicht hat er jetzt erst gemerkt, was er für mich empfindet und es ist zu wenig?

„Miss, wir sind da.“ Der Taxifahrer reißt mich aus meinen Gedanken. „Ist alles in Ordnung mit Ihnen.“
Ich nicke – reden kann ich nicht. Ich drücke ihm das Geld in die Hand und steige aus. Für einen Moment bleibe ich vor Marcus’ Haus stehen. Soll ich wirklich zu ihnen gehen und sie mit meinen Problemen belasten? Sie haben ihre eigenen Sorgen. Aber wo sollte ich sonst hin? In diesem Moment geht die Tür auf.
„Hey, Nicky.“ ruft mir Nina entgegen. „Ich hab Dich vom Küchenfenster aus gesehen. Schön, Dich…“
Als sie bei mir angekommen ist, hört sie abrupt auf. „Nicky, was ist passiert?“
Sie reißt die Augen auf. Ich will etwas sagen, aber ich kann nicht. Die Tränen übernehmen die Führung und als mich Nina in den Arm nimmt, beginne ich zu schluchzen.
„Christopher… Er…“
„Lass uns erstmal reingehen, Nicky“, schiebt mich Nina zum Haus.
Marcus kommt gerade aus dem Garten ins Wohnzimmer und sobald er mich sieht, wird sein Blick besorgt.
„Schatz, was ist passiert?“
Nina bringt mich in die Küche und bugsiert mich zum Tisch, wo ich mich auf einen Stuhl fallen lasse.
„Christopher… Er… Er hat …“
Ich schaffe es einfach nicht, den Satz zu Ende zu sprechen.
„Was hat Christopher getan?“ Marcus’ Stimme wird leicht böse und er hebt mit seiner Hand meinen Kopf an, so dass ich ihm in die Augen schauen muss. „Hat er Dir weh getan? Nicky, sei ehrlich zu mir?“
Kopfschüttelnd versuche ich, den Kloß nach unten zu schlucken, um wieder reden zu können.
„Nein – zumindest nicht physisch?“
Marcus und Nina schauen sich fragend an. „Was meinst Du damit?“ Nina kommt zum Tisch und setzt sich neben mich. Ich hole tief Luft und erzähle ihnen von dem Zwischenfall. Nachdem ich fertig bin, schaue ich zwischen den beiden hin und her. Es herrscht Stille, die ich nicht deuten kann.

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