Kapitel 43

Mathilda kommt angerannt und schnappt sich Sarah.
„Ich hab ganz tolle Sachen für den Sandkasten bekommen, die durfte ich mitbringen. Kommst Du mit spielen?“
Das lässt sie sich natürlich nicht zweimal sagen und schon sind die beiden im Garten. In diesem Moment kommt Claudia auf uns zu.
„Hallo Nicky! Willkommen zu Hause! Wie geht’s Dir?“
„Ganz gut eigentlich. Bin nur gespannt, wie jetzt so die Nächte werden.“
Nina lacht auf. „Lass Dich bitte nicht von den ersten Tagen täuschen. Manche Babies schlafen die ersten paar Wochen super durch und dann geht der Terror los!“
Claudia stupst sie an. „Jetzt mach ihr doch keine Angst, Nina!“
Ich muss lächeln. „Schon gut, Mädels. Ich hab mit einigen Müttern in der Klinik gesprochen, also die nicht zum ersten Mal entbunden haben und hab einige Stories gehört. Und außerdem hab ich Christopher – zumindest einer von uns ist also schon geübt.“

Christopher kommt die Treppe herunter.
„Jayden verlangt nach Dir.“
Ich nicke und verschwinde nach oben. Das Babyzimmer ist wunderschön geworden, Jacob und Christopher habe ganze Arbeit geleistet. Ein Mobile über der Wiege, die Möbel in leichten Blautönen übermalt und sie haben sogar meine Leidenschaft Australien aufgegriffen und an die Wände Wahrzeichen des Landes gemalt. Jedes Mal, wenn ich die Tür hinter mir schließe, habe ich das Gefühl, ganz woanders zu sein – und ich liebe es. Jayden liegt in der Wiege, ist allerdings nicht sehr glücklich. Sein knurrender Magen macht ihm zu schaffen und ich gebe ihm, was er braucht. Christopher hat die Wiege im Moment etwas höher eingestellt, so dass ich mich nicht allzu weit nach unten beugen muss, um den kleinen Racker herauszuheben und nicht Gefahr laufe, die Wunde reißen zu lassen. Ich setze mich mit meinem Sohn in den Schaukelstuhl am Fenster und während Jayden vor sich hin nuckelt, schaue ich nach draußen. Jacob’s, nein, Jayden’s Zimmer geht zur Seite Richtung Wald, so dass ihn keine Autos oder die Gäste auf der Terrasse stören können. Ein perfektes Zimmer für einen heranwachsenden Menschen.

Als Jayden satt ist, wiege ich ihn in meinem Arm und wippe im Schaukelstuhl vor und zurück. Gerade, als er eingeschlafen ist, klopft es leise an die Tür und ich antworte leise.
„Ja?“
Jacob öffnet vorsichtig die Tür und kommt herein.
„Ich wollte nur mal schauen, ob’s Euch beiden gut geht.“ sagt er und lächelt uns zwei an. „Ist ein schöner Anblick – wie Du mit dem Kleinen hier sitzt. Weißt Du, so was kennen Christopher und ich nicht. Klar, Christopher saß auch mit Sarah so manche Nacht in ihrem Zimmer, bis sie eingeschlafen ist, aber… naja… er selbst hat nie gesehen, wie es eine Mutter machen würde. Und ich auch nicht.“
Ich höre in seiner Stimme, dass es ihm nicht leicht fällt, dies zu sagen.
„Dir hat Jessica’s plötzlicher Tod auch sehr zu schaffen gemacht, oder?“
Er nickt. „Es war so schwer! Ich mochte sie sehr und zu sehen, wie Christopher fast daran zerbricht, hat auch mir fast das Herz gebrochen! Sie war eine tolle Frau und sicher wäre sie auch eine tolle Mutter gewesen. Wir haben beide lange gebraucht um zu akzeptieren, dass wir nun ohne weibliche Hilfe auskommen müssen, dass Sarah eben zwei Väter haben wird, die sich um sie kümmern. Als Du in Christopher’s Leben getreten bist – mal abgesehen von den… den anfänglichen Problemen zwischen uns beiden –, habe ich einfach nur gebetet, dass Christopher nicht noch einmal so leiden muss und Du ihm… ach, keine Ahnung, wie ich es ausdrücken soll… halt einfach die Mutter für sein Kind sein kannst. Und ich bin so froh, dass es auch so eingetreten ist.“
Jacob laufen Tränen die Wangen herunter.

Die Tür geht auf und Christopher steht im Türrahmen. Sofort sieht er Jacob’s glänzende Augen.
„Jay, ist was passiert?“ flüstert er, doch er muss sich sehr beherrschen.
„Nein, nein, alles bestens“, erwidert sein kleiner Bruder, schnieft kurz und geht dann aus dem Zimmer.
Christopher schaut ihm hinterher und als er sich wieder fragend zu mir umdreht, lächele ich ihn an.
„Ihr habt beide eine schwere Zeit hinter Euch. Ich bin froh, dass ich wenigstens ein klein wenig dazu beitragen kann, dass wieder ein bisschen Glück in Euer Leben einzieht.“
Er holt tief Luft und ich denke, er versteht, warum Jacob geweint hat.
„Nicht nur ein bisschen, Schatz! Du hast das Glück komplett wieder zu uns geholt!“
Er nimmt mir Jayden ab, legt ihn in sein Bettchen, zieht mich dann vorsichtig zu sich hoch und umarmt und küsst mich mit solcher Hingabe, dass es mir fast den Atem nimmt.
„Ich liebe Dich, Nicky Fischer! Und am liebsten möchte ich das in die ganze Welt hinausschreien!“

* * * * *

In den nächsten Wochen kann man Jayden beim Wachsen regelrecht zuschauen. Er ist Gott sei Dank ein eher ruhiges Kind, schreit nur, wenn es sein muss und Christopher und ich sind die glücklichsten Eltern der Welt. Sarah ist immer mit von der Partie, ist neugierig und stellt immer wieder Fragen, was uns teilweise echt zum lachen bringt.

In den ersten Tagen zu Hause bekommen wir immer wieder Besuch von Marcus sowie von Rosie und Emily.
„Darf ich auch bei Jayden ab und an mal Babysitter spielen?“ fragt uns Emily gleich beim ersten Besuch.
Christopher ist völlig perplex und auch ich schaue sie leicht überrascht an.
„Emily, wir hätten uns nie getraut, Dich zu fragen. Bist Du Dir sicher?“
Rosie nimmt Christopher am Arm.
„Chris, mittlerweile solltest Du Emily wirklich kennen. Sie würde nicht fragen, wenn ihr es nicht ernst wäre. Also ich an Eurer Stelle würde nicht lange zögern.“
Er wirft mir einen kurzen Blick zu und ich zucke nur lächelnd mit den Achseln.
„Okay, Emily! Liebend gern! Aber dafür bekommst Du auch eine kleine Gehaltserhöhung!“
Ihr ist anzusehen, dass sie sich sehr darüber freut. Sie nimmt Jayden aus seinem Laufgitter, welches zwischen dem Wohnzimmer und der Küche steht und wiegt ihn in ihren Armen.
„Also ich muss sagen, Jayden kommt eindeutig mehr nach Nicky. Die blau-grauen Augen und auch die Nase sind definitiv nicht von Dir, Christopher!“

Zwei Monate später – mittlerweile ist es Dezember – nehmen wir das erste Mal das Angebot von Emily an. Marcus und Nina hatten uns gefragt, ob wir nicht mit ihnen wieder auf den zugefrorenen Fluss Schlittschuhlaufen kommen wollen.
„Sozusagen ein bisschen Jahrestag feiern“, hatte Marcus vorgeschlagen.
Christopher und ich hatten sofort begeistert zugesagt und auch Jacob und Claudia, die mittlerweile zusammen in Marcus’ und Nina’s alten Haus wohnen, waren von der Idee begeistert. Bevor Nina sich überhaupt um einen Babysitter kümmern konnte, da sie nie jemand festen hatten, hatte sich schon Emily bereit erklärt, auf Josephine und Jayden gemeinsam aufzupassen.

Halb zwei stehen die vier also vor der Tür. Mathilda rennt Christopher fast um, ruft mir ein kurzes „Hi“ entgegen und schon ist sie oben bei Sarah.
„Bist Du soweit, Sarah? Ich freu mich schon die ganze Woche auf das Eislaufen!“
Die beiden Mädchen kommen fast schon die Treppe herunter geflogen.
„Wir sind fertig!“ grinsen sie uns an.
„Na, na“, beruhigt Marcus die beiden. „Immer schön langsam. Mami bringt erstmal Josephine zu Emily und Sarah muss sich ja auch noch anziehen. Du kannst aber schon mal ihre Schlittschuhe ins Auto bringen.“
In diesem Moment fährt Jacob die Auffahrt hoch und parkt seinen Wagen an der Seite. Christopher hatte ihm angeboten, dass die beiden bei uns mitfahren sollen, was sie dankend angenommen haben.
 

„Okay, die Kleinen sind versorgt. Wir können los!“ sage ich in die Runde und schon brechen wir auf.
Bei Emily habe ich ein gutes Gefühl, so dass ich ganz entspannt das Haus verlassen kann und auch Nina hatte ich davon überzeugt. Sarah fragt gar nicht erst und springt bei Marcus und Nina auf den Rücksitz, noch bevor wir überhaupt etwas sagen können. Auf dem Weg zum Fluss bekomme ich plötzlich ein ganz seltsames Kribbeln im Bauch. Ich denke nach und stelle fest, dass es genau ein Jahr her ist – auf den Tag genau –, dass ich Christopher kennen gelernt habe. Ich lege meine Stirn in Falten. Ob Marcus deshalb den Vorschlag gemacht hat? Eigentlich hatte ich für diesen Tag etwas ganz anderes geplant, aber durch den Stress als junge Mutter ist es mir total entfallen. Umso besser, dass ich auf diese Weise wieder daran erinnert werde.

Die Autos stehen noch nicht mal richtig, als Sarah und Mathilda schon aussteigen, die Kofferraumklappe öffnen und mit den Schlittschuhen zur nächstgelegenen Bank rennen. Sie können es echt nicht erwarten. Wir Erwachsenen lassen uns etwas mehr Zeit. Claudia quetscht mich und Nina aus, wie es mit den Babies läuft, während Marcus, Jacob und Christopher über Marcus’ neues Auto fachsimpeln. Es ist schön, diese Situation zu beobachten: drei Pärchen, die sich super verstehen und ab und an was unternehmen. Früher hatte ich das mit Tom nie – er kannte nur seine Arbeit und ich hatte nicht den Nerv, allein auf die Piste zu gehen. Hier in Kanada in meinem neuen Leben ist alles so, wie ich es mir immer erträumt hatte.

Wie immer habe ich anfangs ein paar Schwierigkeiten, auf den Schlittschuhen Halt zu finden, aber im Gegensatz zu letztem Jahr brauche ich nur ein paar Anläufe. Christopher hakt sich bei mir ein und während die Mädchen vor uns Fangen spielen und in ihrer eigenen Welt sind, schlittern wir gemächlich dahin.
„Da vorn ist der Stand, wo Du Claudia erblickt hast, Jay“, rufe ich den beiden zu und sie lächeln.
„Ja, wissen wir!“ antworten die beiden und werfen sich verliebte Blicke zu.
Ein bisschen weiter ist weniger los, weil die meisten erstmal eine Rast an den Buden machen, die im Moment noch etwas spärlicher gesät sind – die Saison hat gerade erst begonnen – und so können wir leichter fahren, ohne ständig auf andere Leute Acht geben zu müssen.

Plötzlich hält mich Christopher fest und zwingt mich stehen zu bleiben.
„Ist was nicht in Ordnung, Chris?“ frage ich ihn.
„Ähm, Nicky, ich wollte Dir was sagen?“
Ich fasse all meinen Mut zusammen – okay, dann mach ich das jetzt auch. „Ich auch!“
Seine Augen werden groß. „Du auch?“
Ich nicke. „Okay, Ladies first!“
In meinem Kopf arbeitet es und ich habe fast das Gefühl, man kann eine große Rauchwolke über mir sehen. Wie fange ich an? Wie sage ich es ihm? Was wird er antworten?
„Also, Nicky? Was wolltest Du mir sagen?“
Ich hole einmal tief Luft und setze dann an.
„Christopher, wir sind jetzt eine richtige kleine Familie und ich… also… ich habe mich gefragt, ob es Dir recht ist, wenn… wenn…“
Er nimmt meine Hände in seine. „Wenn was, Schatz? Spuck’s schon aus!“
„Naja, sollte Dir – Gott bewahre – mal was passieren, dann… dann kann ich nichts für Sarah tun, weil… weil ich ja nicht ihre Mutter bin. Deshalb habe ich mich gefragt, ob... ob Du was dagegen hast, wenn ich Sarah… also… wenn ich sie adoptiere.“
Christopher’s Händedruck wird mit einem Mal viel stärker. Zunächst kann ich es nicht richtig deuten, doch dann sehe ich in seinen Augen einen Glanz, den ich in letzter Zeit öfters gesehen habe: Glück! „Oh mein Gott, Nicky! Das… das ist wunderbar! Ich hätte nie gewagt, Dich das zu fragen! Ich hatte auch schon daran gedacht, aber ich… naja… ich hab mir gedacht, dass das eine Entscheidung ist, die Du von Dir aus treffen musst! Und ich kann echt nicht fassen, dass Du darüber schon nachgedacht hast!“

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