Kapitel 41

Am Abend spüre ich verstärkt Tritte, mache mir aber noch keine Gedanken. In letzter Zeit ist der Kleine mal wieder sehr aktiv, so dass es des öfteren vorkommt. Christopher schläft mit seiner Hand auf meinem Bauch gegen halb 12 Uhr ein, aber ich finde keinen Schlaf. Immer intensiver werden die Tritte, bis ich irgendwann merke, dass es nicht mehr nur normale Schmerzen sind – die Wehen! Wie es uns die Hebamme gezeigt hat, beginne ich, im Rhythmus zu atmen. Ich will nicht gleich Alarm schlagen. Gegen vier Uhr morgens kommen die Wehen in immer kürzeren Abständen. Ich bin schon seit gut einer Stunde nicht mehr im Bett, sondern wandere auf und ab, um mir das Atmen etwas zu erleichtern. Ich entscheide mich, Christopher zu wecken.
„Schatz?“
Er grummelt neben mir, bewegt sich kurz, wird aber nicht wirklich wach.
„Schatz, es ist Zeit!“
Wieder nur ein Grummeln und dann ein Nuscheln. „Hhhmm? Was ist?“
Langsam öffnet er die Augen, schaut mich an und als ich leicht die Augenbraue nach oben ziehe und lächele, versteht er sofort.
„Oh mein Gott! Krümel?“
Sein Blick wandert zwischen mir und meinem Bauch hin und her. Mit einem Satz steht er im Schlafzimmer und zieht sich an.
„Kannst Du allein die Treppe nach unten gehen? Dann wecke ich schnell Sarah und mach sie fertig.“
„Ja, ja. Mach… Aaaaauuuuuuu!“
Eine entsetzlich starke Wehe durchfährt mich gerade und ich muss mich mit einer Hand am Türrahmen festhalten.
„Bitte durchhalten, Nicky! Ich beeil mich. Sarah?!“
Christopher ist noch nicht mal in ihrem Zimmer angekommen, als er schon nach ihr schreit.

Langsam schleife ich mich die Treppe nach unten. Neben der Kommode steht meine Tasche fertig gepackt. Ich schlüpfe in meine Schuhe und werfe mir die Jacke über, als ich wieder eine Wehe kommen spüre. Diesmal bin ich etwas vorbereitet und atme dagegen. Ich sollte anfangen, die Zeit dazwischen zu messen. Christopher kommt mit Sarah auf dem Arm die Stufen herunter. Die Kleine schaut mich verschlafen an.
„Wieso kann mein Bruder nicht am Tag auf die Welt kommen?“
Ich muss lächeln. „Weißt Du, Sarah, Dein Bruder kann in meinem Bauch nicht sehen, ob es Tag oder Nacht ist und eine Uhr hat er da drin auch nicht.“
Sie schaut an mir herunter und legt dann ihren Kopf auf Christopher’s Schulter. Sie tut mir leid, dass wir sie mitten in der Nacht aus dem Schlaf reißen mussten, aber allein können wir sie auf keinen Fall lassen.

Christopher trägt Sarah zum Auto, schnallt sie auf dem Kindersitz fest und während ich mich langsam auf den Beifahrersitz hieve, holt er noch die Tasche und dann geht’s auch schon los.
„Geht’s Dir gut, Schatz?“ fragt er mich und seine Gesicht sieht fast schon ängstlich aus.
„Naja, so gut wie es einem in diesem Zustand halt gehen kann.“
Er nimmt meine Hand und als hätte er es gespürt, brauche ich sie genau in diesem Moment, denn wieder kommt eine Wehe. Ich muss mir mein Schreien unterdrücken, um nicht Sarah zu erschrecken und beiße auf meinen Schal.
„Hast Du die Zeit gestoppt?“
„Ja, Chris. Alle 10 Minuten mittlerweile.“
Ich kann sehen, wie aufgeregt er ist und weiß nicht recht, ob ich lachen oder vor Rührung weinen soll.

Ich steige gerade aus dem Wagen aus, als ich spüre, wie Wasser an meinen Beinen herunter läuft. Christopher bemerkt es ebenfalls.
„Deine Fruchtblase, Nicky!“
Er nimmt Sarah an die eine Hand und ich hake mich in seinen anderen Arm, als ich die nächste Wehe erlebe.
„Aaaaaaaaaaaauuuuuuuuuuuuuu!“
Sarah und Christopher schauen mich beide entsetzt an.
„Sarah, renn bitte zur ersten Krankenschwester, die Dir über den Weg läuft und sag ihr, dass hier draußen jemand ist, der ein Kind bekommt. Hast Du mich verstanden?“
Sarah nickt ihren Daddy aufgeregt an und sprintet dann los. Es dauert nicht mal zwei Minuten, bis eine Schwester mit einem Rollstuhl kommt.
„Miss Fischer?“ werde ich gefragt. Ich nicke. „Dr. Johnson ist bereits hier. Sie sagte uns schon, dass Sie jeden Moment hier sein werden.“
Ich bin erleichtert, dass die Ärztin bereits da ist. Bei der letzten Untersuchung hatte sie mir ihre Pager-Nummer gegeben und ich hatte sie angepiept, als ich im Hausflur auf Christopher und Sarah gewartet hatte. Sie kommt mir im Gang der Gynäkologischen Abteilung entgegen.
„Wie geht es Ihnen, Miss Fischer?“
„Naja, geht…“
Die nächste Wehe kündigt sich an und ich atme tief ein und aus.
„Mr. Lawson, wenn Sie möchten, können Sie mit Sarah ins Schwesternzimmer gehen. Ich hatte ihnen bereits gesagt, dass sie wahrscheinlich auf ein kleines Mädchen ein Augen werfen müssten und sie haben absolut nichts dagegen.“
Christopher atmet erleichtert auf. „Danke, Dr. Johnson. Das ist wirklich super lieb von Ihnen.“
Er beugt sich zu mir nach unten und gibt mir einen Kuss.
„Nicht ohne mich anfangen, ich bin gleich wieder da.“
Christopher geht mit seiner Tochter an der Hand den Flur hinunter, während Dr. Johnson mich in den Entbindungssaal bringt.

Die Hebamme schließt mich ans CTG an und ich höre die aufgeregten Herztöne meines kleinen Sohnes. Jetzt beginne ich, langsam aber sicher sehr nervös zu werden. Dr. Johnson spürt es und versucht mich, etwas zu beruhigen.
„Wir kriegen das schon hin, Miss Fischer. Keine Sorge!“
In diesem Moment kommt Christopher herein.
„Sie möchten bei der Geburt dabei sein, nehme ich an?“
Mehr als aufgeregt nicken kann er nicht und während ich die nächste Wehe erlebe, setzt er sich oberhalb meines Kopfes und nimmt meine Hand.

Eigentlich sind wir beide davon ausgegangen, dass es jetzt in die Endphase geht, aber aus irgendeinem Grund kommen die Wehen zwar in immer kürzeren Abständen, aber der Kleine will einfach nicht in die Welt kommen. Dr. Johnson spricht mit der Hebamme, aber ich kann nicht alles verstehen. Die Wehen werden immer heftiger und ich schreie mir die Seele aus dem Leib, während ich fast Christopher’s Hand breche.
„Wieso kommt denn der Kleine nicht endlich raus? Dr. Johnson, ist was nicht in Ordnung?“ fragt er.
„Ich bin mir nicht sicher. Ich habe eine Prognose, muss dazu aber das Ultraschallgerät zurate ziehen.“
Die Hebamme verschwindet und taucht kurze Zeit später mit dem Gerät wieder auf, während Dr. Johnson meinen Unterleib mit Gel einreibt. Sie hat den Monitor so gedreht, dass weder Christopher noch ich etwas sehen können und so schauen wir beide gespannt auf ihr Gesicht und ihre Mimik. Plötzlich legt sich ihre Stirn in Falten und ich bekomme Panik.
„Geht… geht es dem Baby gut? Ich… ich… Die Herztöne höre ich doch.“
„Keine Panik, Miss Fischer. Ich hatte mir so was schon fast gedacht: der Kleine hat sich wohl einmal zu viel gedreht und jetzt ist die Nabelschnur um seinen Hals, so dass er sich nicht weiter vorarbeiten kann, ohne sich zu strangulieren. Die Wehen kommen daher, dass das Baby es immer wieder von neuem probiert. Wir müssen einen Notkaiserschnitt machen.“
Christopher reißt die Augen auf. „Einen… einen Notkaiserschnitt?“
„Das ist reine Routine, Mr. Lawson. Wir bereiten den OP vor und…“
Er fällt ihr wütend ins Wort. „Das habe ich schon einmal gehört! ‚Routine’ – und dann ist meine Frau gestorben!“
Christopher schreit fast und in diesem kühlen Raum schallt es nochmal so laut. „Ich will und kann das nicht noch einmal durchmachen!“
Dr. Johnson verstummt. Für einen kurzen Moment ist Stille. Nach ein paar Sekunden drücke ich leicht Christopher’s Hand.
„Schatz, bei Jessica war es doch ganz anders. Sarah war viel zu früh dran. Bei mir ist alles im grünen Bereich. Ich weiß, dass es damals bei Mathilda’s Geburt genau so war. Natürlich habe ich auch etwas Angst, aber… Du hast gehört, was Dr. Johnson gesagt hat: entweder Notkaiserschnitt oder der Kleine stranguliert sich. Christopher, vertrau Dr. Johnson – vertrau mir!“
Die Hebamme ergreift das Wort. „Der OP ist vorbereitet.“
Die Ärztin nickt ihr zu und schaut dann auf Christopher und mich. „Sind Sie soweit? Mr. Lawson, Sie können natürlich mitkommen. Bei einem Kaiserschnitt ist ihre… ihre Freundin bei vollem Bewusstsein und kann Sie auch da gut gebrauchen.“
Er schluckt kurz seine Angst hinunter und nickt dann. „Natürlich werde ich bei ihr bleiben.“
Die Hebamme entfernt die Kabel von meinem Bauch und schiebt mich mitsamt dem Bett zwei Türen weiter, wo ich bereits von zwei Schwestern erwartet werden. Dann wollen wir mal, denke ich mir und hole tief Luft.

Ich kann an Christopher’s Gesichtsausdruck sehen, dass er genauso aufgeregt und nervös ist wie ich. Mir wird ein lokales Anästhetikum gespritzt, ein Tuch oberhalb meines Bauches gespannt und Christopher bekommt einen Stuhl direkt neben meinen Kopf gestellt. Mein Puls beginnt zu rasen, was der Schwester nicht verborgen bleibt.
„Miss Fischer, versuchen Sie, sich zumindest ein bisschen zu entspannen, so dass Ihr Blutdruck etwas sinkt.“
Ihr schaue erst ihr, dann Christopher in die Augen: Sehr witzig – entspannen! Er scheint genau das gleiche zu denken. Dr. Johnson blickt noch einmal aufmunternd zu mir.
„Sind Sie soweit, Miss Fischer?“
Mehr als nicken kann ich nicht, denn eigentlich habe ich Angst.

Christopher nimmt meine Hand und drückt sie fest. Es gibt mir Kraft und obwohl ich nichts spüre, merke ich doch irgendwie, dass die Ärztin langsam in mich vordringt. Mir kommt es wie eine Ewigkeit vor und ich bin froh, dass ich das nicht alleine durchmachen muss. Christopher schaut mir in die Augen, lässt meinen Blick nicht los und er beruhigt mich dadurch. Plötzlich höre ich ein Grunzen und gleich darauf ein Schreien – unser Baby! Ich kann es kaum erwarten, den Kleinen endlich in meine Arme zu schließen. Christopher hebt den Kopf, so dass er über das Tuch zur Schwester schauen kann, lächelt und wendet seinen Blick dann wieder zu mir.
„Er ist wunderschön!“
Allein schon dieser Satz aus seinem Mund lässt meine Augen feucht werden. Eine Schwester kommt an das Kopfende und legt mir den kleinen Krümel auf die Brust. Instinktiv, ohne, dass ich überhaupt wirklich denke, schließe ich den Arm um ihn und lasse meinen Tränen freien Lauf.
„Hallo, Du! Willkommen im Leben!“
Christopher rutscht näher heran, so dass er einen Arm um meinen Kopf und den anderen auf mich und unseren Sohn legen kann. Auch er kann sein Glück nicht verbergen. Seine Augen strahlen und glänzen zugleich.
„Ich liebe Dich, Nicky! Dafür, dass Du in mein Leben getreten bist und mir ein weiteres Kind geschenkt hast!“

„Herzlichen Glückwunsch, Miss Fischer, Mr. Lawson! Ihr Sohn ist kerngesund!“
„Danke, Dr. Johnson!“
Christopher steht auf und ich kann ihm ansehen, dass er drauf und dran ist, die Ärztin vor Glück zu umarmen!
„Es tut mir leid, dass ich vorhin… naja… also… sorry!“
Sie legt beschwichtigend ihre Hand auf seine Schulter. „Ist schon okay, Mr. Lawson. Ich kann Sie voll und ganz verstehen, auch wenn ich nicht die ganzen Zusammenhänge kenne. Ihrer Freundin und dem Baby geht’s gut und wenn der Schnitt gut verheilt, kann Miss Fischer in einer Woche nach Hause.“

Christopher strahlt mich an, während eine Schwester mir den Kleinen abnimmt.
„Dann machen wir den Racker mal sauber. Ich bringe Ihnen Ihren Sohn, sobald Sie auf dem Zimmer sind.“
Meine Wunde wird noch verbunden und dann werde ich in mein Krankenzimmer gebracht. Christopher weicht mir nicht von der Seite, hält immer noch meine Hand und als wir endlich allein sind, setzt er sich auf die Bettkante und schaut mich einfach nur an. Langsam werden seine Augen immer feuchter und nach und nach rinnen Tränen seine Wangen hinunter.
„Nicky… ich weiß nicht, was ich… was ich sagen soll. Ich… ich bin einfach nur so…“
Er ringt mit den Worten und ich beende für ihn den Satz. „Glücklich?“
Langsam hebt und senkt sich sein Kopf.
„Ich bin so dankbar für das, was mir im letzten Jahr passiert ist und falls es einen Gott gibt, so schicke ich demnächst ein Dankesgebet gen Himmel!“
Ich muss schmunzeln.
„Sag mal, hast Du schon jemanden angerufen? Und was ist mit Sarah?“
Er reißt plötzlich die Augen auf. „Ach Du Schreck, Sarah hab ich ja total vergessen! Ich bin gleich wieder da.“ Zärtlich drückt er mir einen Kuss auf die Stirn und verschwindet. Für ein paar Minuten habe ich Zeit für mich und ich schüttele fassungslos den Kopf. Christopher hat recht – auch ich kann nicht fassen, was mir in den letzten Monaten passiert ist und ich bin glücklich, genau wie er. Glücklich, dankbar, verliebt… und Mutter! Wieder kommen mir Tränen. Irgendwie kann ich nicht glauben, dass ich so viel Gutes verdient habe.

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