Kapitel 44

Christopher umarmt mich stürmisch, dass ich ins Schwanken komme und wir zwei fast wieder einmal auf dem Eis landen, doch diesmal schaffen wir es, uns wieder zu fangen.
„So, jetzt bist Du dran.“
Ich schaue ihn erwartungsvoll an, denn ich habe nicht die geringste Ahnung, was jetzt kommen wird. Er holt tief Luft – etwas, was er nur macht, wenn ihm etwas sehr schwer fällt – und geht plötzlich vor mir auf die Knie. Meine Augen werden immer größer, mein Puls beginnt, in die Höhe zu schießen. Will er jetzt wirklich das machen, was ich denke? Ich spüre, wie mein Atem unregelmäßig wird, als er langsam anfängt, nach den richtigen Worten zu suchen.
„Nicky… Schatz… ich… ich weiß, dass wir uns erst ein Jahr kennen – auf den Tag genau und vielleicht würde jeder mit etwas Vernunft sagen, dass es noch zu früh ist, aber ich will nicht länger auf meinen Kopf hören! Du… Du hast wieder das Glück in mein Haus gebracht.“ Wieder schluckt er. „Du hast mich glücklich gemacht, hast mir ein weiteres Kind geschenkt und seit ich Dich kenne, geht es mir so gut, wie schon seit Ewigkeiten nicht mehr!“
Für einen kurzen Moment hält er inne, holt noch einmal tief Luft und kramt dann in seiner Hosentasche. Er öffnet eine kleine Schachtel, die einen wunderschönen Ring beinhaltet, nimmt mich wieder an der Hand und schaut mir dann tief in die Augen.
„Nicky Fischer! Ich frage Dich hier und jetzt an unserem ersten Jahrestag: möchtest Du mich heiraten und mit mir alt werden?“

Ein riesiger Kloß bildet sich in meinem Hals, meine Augen füllen sich mit Tränen. Ich kann kaum atmen und ich spüre meinen Puls bis zum Hals. Ich vergesse die Zeit und innerlich schreie ich.
„Nicky?“ Christopher schaut mich leicht verängstigt an. „Was… was ist Deine Antwort?“
Ich gehe vor ihm ebenfalls auf die Knie und falle ihm um den Hals.
„Natürlich will ich Dich heiraten! Natürlich will ich mit Dir alt werden! Ja, Christopher, ja, ja, ja, ja!“
Mir laufen die Tränen die Wangen hinunter und auch er kann seine Freude nicht anders ausdrücken. Wir liegen uns in den Armen – eine gefühlte Ewigkeit.

Plötzlich höre ich Marcus’ Stimme hinter uns.
„Ich denke, das heißt dann wohl, dass wir gratulieren dürfen, oder?“
Ich löse mich aus Christopher’s Umarmung und drehe mich um. Jacob, Claudia, Nina und Marcus stehen vor uns und grinsen.
„Ihr… Ihr habt es alle gewusst?“
Nina nickt. „Sorry, Nicky! Selbst Emily wusste davon. Sie hat extra für uns eine Verabredung sausen gelassen, damit Christopher es genau heute machen kann!“
Mehr als fassungslos mit dem Kopf schütteln kann ich nicht.
„Ihr seid echt der Wahnsinn!“
„Ach übrigens“, schaltet sich Christopher ein. „Nicky hat mir auch eben was wichtiges gesagt. Im ersten Moment hatte ich ja schon Angst, dass sie mir einen Antrag machen will – ist ja heutzutage nicht wirklich ungewöhnlich, dass die Frau den ersten Schritt macht.“
Wir müssen lachen.
„Nee, Chris, dazu bin ich dann doch zu altmodisch! Das hätte ich echt nie gemacht.“
„Na, was hat sie Dir denn nun gesagt?“ fragt Jacob ungeduldig.
„Du und Deine Hektik, Bro!“ witzelt Christopher. „Nicky will Sarah adoptieren, damit sie auch auf dem Papier ihre Mutter ist.“
Jeder redet auf einmal durcheinander.
„Was für eine tolle Idee!“
„Man, das ist ja super!“
„Jetzt gehört Ihr vier vollends zusammen!“
Wir werden umarmt, gedrückt, geküsst und innerlich frage ich mich, ob ich das alles wirklich erlebe, oder in ein paar Minuten aufwache und feststelle, dass alles nur ein Traum war. Doch als ich von Marcus so stürmisch in den Arm genommen werden, dass wir beide auf dem Eis landen und mein Hintern beginnt zu schmerzen, weiß ich 100 %ig – das ist mein neues Leben und kein Traum!

* * * * *

Sechs Monate später stecken Christopher und ich bis über beide Ohren in den Hochzeitsvorbereitungen. Ich wollte erst heiraten, wenn ich wieder in ein schönes Kleid passe, was Christopher natürlich voll und ganz respektiert hat – sicherlich auch ein bisschen aus eigenem Interesse. Wir haben uns entschlossen, in Kanada zu heiraten, weil dort ja jetzt unser Lebensmittelpunkt ist und ich nicht wirklich viele Leute aus Deutschland dabei haben muss. Wichtig sind mir einzig und allein meine Familie und eine sehr gute Freundin. In den letzten Wochen haben wir eine Menge telefoniert, um festzustellen, wann die meisten Leute Zeit hätten. Gott sei Dank mussten wir nicht viel hin- und herschieben – Ende September passte eigentlich allen.

Seit gestern telefoniert Christopher nun wie wild mit den Standesämtern. Natürlich sind wir nicht die einzigen, die zu dieser Jahreszeit heiraten möchten und so müssen wir schauen, wo es noch Termine gibt. Wir beide hatten uns bereits in den letzten Wochen geeinigt, dass uns der Termin für die standesamtliche Trauung egal ist – also Montag ist genauso gut wie Mittwoch oder Freitag. Das eigentliche Problem bestand in der Location für die Feier. Zusammen mit Claudia und Jacob hatten wir uns etwas im Internet umgeschaut, doch so richtig kann man sich die Räumlichkeiten allein mit Bildern nicht vorstellen. Also hatten wir beschlossen, dass Christopher mit Claudia und ich mit Jacob einige Objekte besichtigen. Im heutigen Zeitalter von Kamerahandys kann man sich ja auch sehr gut in kürzester Zeit entscheiden.

Jacob hat kurzerhand das Immobilienbüro zwei Tage geschlossen und auch Claudia hat sich einfach mal Urlaub gegönnt und so stehen die beiden an einem wunderschönen sonnigen Donnerstagmorgen vor unserer Tür. In diesem Moment klingelt das Telefon: Nina.
„Es hat mal alles wieder etwas länger gedauert mit den Mädels. Wir brauchen etwa 20 Minuten länger,“ schnauft sie ins Telefon.
„Mach Dir keinen Stress, Nina!“ antworte ich. „Dann trinken wir noch einen Kaffee, bis Ihr hier seid. Wir haben doch keinen Zeitdruck, also alles easy going!“
Christopher steht bereits in der Küche, während Claudia und Jacob schon die Sitzkissen für die Terrassenmöbel nach draußen bringen. Wie auf Kommando meldet sich Jayden und so verabschiede ich mich kurz nach oben. Der Kleine ist nach einer etwas holprigen Nacht jetzt wohl anscheinend vollends wach und verlangt nach einer frischen Windel sowie etwas Aufmerksamkeit.

Während Sarah bereits den Sandkasten in Beschlag genommen hat, gießt Christopher den Kaffee ein. Ich bleibe bei meinem Früchtedrink, den er mir jeden Morgen zur Stärkung macht. Er hat es in einem Elternbuch gelesen und jetzt steht er doch tatsächlich allmorgendlich für dieses Getränk zehn Minuten vor dem Mixer. Jayden ist mittlerweile so agil, dass er – wenn er könnte – mit Sicherheit den ganzen Tag durch die Wohnung rennen würde. Gott sei Dank wird das noch eine Weile nicht der Fall sein. Christopher hat im Frühjahr einen Rasenteppich für die Terrasse geholt, so dass der Kleine nicht auf den harten Fliesen sondern etwas weicher umherrutschen kann. Mit seinen 8 Monaten zieht er sich schon des öfteren an Möbelstücken, besonders gern aber an der Couch hoch und so langsam haben wir an jeglichen scharfen Kanten und Ecken eine Vorrichtung angebracht. Christopher und auch Jacob waren da sehr erfinderisch, haben aber auch aus der Vergangenheit mit Sarah und von Marcus gelernt.

Eine halbe Stunde später klingelt es an der Tür und Nina und Marcus stehen mit dem Nachwuchs vor der Tür.
„Na, schon aufgeregt?“ fragt mich Nina, als sie ins Haus tritt.
„Naja, ist vielleicht nicht das richtige Wort. Wohl eher… neugierig oder gespannt!“
Sarah begrüßt wie immer Mathilda auf ihre kindliche stürmische Art.
„Sarah, bist Du soweit?“ fragt Marcus sie mit großen Augen und sie nickt eifrig.
„Mac, ich komm gleich mit raus und geb' Dir die Sitze für Sarah und Jayden. Is echt toll, dass Ihr die zwei heute und morgen unter Eure Fittiche nehmt.“
„Ach, machen wir doch gern, Chris“, antwortet Marcus. „Ich hoffe nur, dass Jayden mich etwas unterstützt, sonst bin ich bei vier Mädels völlig unterlegen.“
Wir müssen lachen.
„Nina, es ist wirklich echt toll, dass Ihr Sarah und Jayden übernehmt. Ich hoffe nur, dass es Euch nicht zu viel wird.“
Sie winkt ab. „Ach, Nicky, wir gehen ja nicht in ein überlaufenes Einkaufscenter, sondern gehen die Natur entdecken und machen ein nettes Picknick. Du hast keine Ahnung, wie gut Deine beiden Engel heute Nacht schlafen werden.“

Eine Stunde später verabschieden sich Nina und Marcus mit vier Kindern auf den Rücksitzen. Ich muss schmunzeln, als ich den großen Wagen um die Ecke fahren sehe. Marcus und eine Familienkutsche, wie er sie früher immer genannt hat. Wer hätte das gedacht?! Kurz darauf steige ich bei Jacob ein, während sich Christopher und Claudia in seinem Wagen auf den Weg machen. Wir hatten verabredet, dass wir uns gegenseitig Fotos schicken, wenn uns ein Objekt gefällt. Da Christopher und ich einen relativ ähnlichen Geschmack haben, war ich der Meinung, dass wir nicht von jeder Location ein Bild machen müssen, sondern wir uns gegenseitig vertrauen.

Die ersten beiden Adressen sind der totale Reinfall. Gleich beim ersten Restaurant bekomme ich einen Riesenschreck und Jacob verschluckt sich fast an seinem Kaugummi.
„Ha, also dieses Restaurant sollte man wohl eher nur dann mieten, wenn man seine Scheidung feiern will.“
Ich pruste los und wir versuchen erst gar nicht, uns von dem Inneren ein Bild zu machen. Von außen soll es schon einladend sein – und das ist dieser Imbiss mit Sicherheit nicht. Also auf zum nächsten Objekt.

40 Minuten später fahren wir eine lange Auffahrt hinauf zu einem großen Herrenhaus. Auf der Homepage stand, dass es einen festen Preis für zwei Tage gibt und man nur einen ganz bestimmten Caterer in Anspruch nehmen darf. Das Ambiente der Räumlichkeiten hatte mir auf den Fotos gefallen und ich wollte trotzdem herkommen. Eigentlich hatte ich auf meinen beziehungsweise – falls es sich um eine Besitzerin handeln sollte – Jacob’s Charme gehofft, aber der Hausherr ließ beim besten Willen nicht mit sich handeln.
„Schade“, sagt Jacob und dreht sich noch mal um, bevor wir ins Auto steigen. „Ist ja schon eine schöne Location für ne Hochzeit. Und wenn ich dann noch daran denke, dass man da hinten im Park in der Sonne schöne Fotos machen könnte. Naja, aber hilft ja alles nichts. Der Gesamtpreis war dann schon mehr als heftig!“
Auch ich schaue mir das Gebäude noch einmal im ganzen an und merke, dass ich schon sehr enttäuscht bin, aber dann denke ich mir, dass wir gerade mal angefangen habe und dies erst das dritte Objekt ist. Christopher hat sich noch nicht gemeldet, was wohl bedeutet, dass er auch noch nicht wirklich Glück hatte.
„Kopf hoch, Nicky!“ ruft mir Jacob über das Autodach entgegen, als könne er Gedanken lesen. „Wir finden schon das richtige. Und wenn nicht wir, dann Christopher und Claudia!“

Sechs Stunden vergehen und wir vier entscheiden, uns in einem Café zu treffen, was zwischen unseren derzeitigen Aufenthaltsorten ungefähr gleich weit entfernt liegt. Christopher hatte mir zwischenzeitlich ein paar Fotos von zwei verschiedenen Restaurants geschickt, die zwar sehr schön waren und uns mit dem Preis sogar entgegen kommen wollten, aber irgendwie haben wir beide gespürt, dass es noch nicht wirklich das ist, was wir uns vorgestellt hatten. Als wir uns im Café über die bereits besichtigten Locations unterhalten, merke ich auch bei Christopher eine leichte Enttäuschung.
„Na, jetzt werft mal nicht gleich die Flinte ins Korn, Leute!“ versucht Jacob die Stimmung etwas aufzulockern. „Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut. Morgen früh geht’s weiter und ich bin mir sicher, dass eins der Objekte mit Sicherheit genau so ist, wie Ihr es Euch wünscht.“

Da Sarah und Jayden diese Nacht bei Nina und Marcus sind, bleiben Jacob und Claudia über Nacht. Am Abend schauen wir noch einmal die Broschüren und Internet-Ausdrucke der Häuser und Restaurants an, die wir uns morgen anschauen wollen, bevor wir fast schon todmüde ins Bett fallen.

Am Freitag morgen geht es gut gestärkt los. Etwas außerhalb von Toronto liegt auf einem riesigen Anwesen das „Casa Loma Castle“. Schon bei dem Namen und vor allem bei den ersten Fotos der Website hatte ich eigentlich gleich abgewinkt und Christopher gesagt, dass wir uns das eh nicht leisten können und es da auch keine Möglichkeit gäbe, die Kinder – und ich spreche nicht nur von unseren beiden und den zwei Mädchen von Nina und Marcus – zum schlafen zu legen, da es kein angeschlossenen Hotel hat. Aber er bestand darauf, dass wir zumindest mal vorbeifahren und auch Jacob riet mir dazu. Als wir durch das Eisentor die lange Auffahrt kommen und ich schon von weitem das Schloss sehe, komme ich mir vor wie Aschenputtel vor dem großen Ball. Ich will Jacob schon fast sagen, dass er vor dem Eingang gleich wieder umkehren kann, aber der parkt das Auto und steigt schon aus. Er macht mit dem Handy einige Fotos.
„Ich schick sie gleich Christopher. Irgendwie hab ich so das Gefühl, wir sind nicht zum letzten Mal hier“, lächelt er mich verschmitzt an – und er sollte recht behalten.

Eine knappe Stunde später kommen wir mit einer riesigen Mappe voll Unterlagen aus dem Büro der Verwalterin, die uns mehr als freundlich mit dem Preis und einer Menge Extras entgegen gekommen ist. Sie wird uns einen Raum zur Verfügung stellen, wo die Kinderbetten aufgestellt werden können und sie hat uns versichert, dass es mit dem Empfang der Babyphone dort absolut keine Probleme gäbe. Wir wären nicht die ersten Gäste mit dieser Art von Wünschen. Das Catering überlässt sie völlig uns, hilft uns aber, wenn wir es möchten. Außerdem nannte sie uns noch drei Hotels fast schon in Laufnähe, mit denen das Schloss gerne zusammenarbeitet. Nach einem Rundgang durch die Räumlichkeiten, die uns am Tag der Hochzeit zur Verfügung stehen werden, wird mir klar: hier möchte ich heiraten. Jacob hatte es anscheinend in meinen Augen gesehen, denn kaum sind wir aus dem Haus, kramt er das Handy aus der Tasche und ruft seinen großen Bruder an.
„Chris, Ihr könnt aufhören zu suchen – ich glaube, Nicky hat sich bereits entschieden und ich bin mir sicher, Du wirst es auch lieben. Irgendwie passt es zu Dir.“
Ich ziehe die Augenbraue hoch, als ich diese Worte aus seinem Mund höre, und in diesem Moment erläutert er seine Aussage.
„Hat auch schon ein paar Jährchen auf dem Buckel!“ Ich lache immer noch über ihn, als wir auf dem Weg nach Hause sind.

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