Kapitel 36

Knapp zwei Stunden später stehen wir am Flughafen. Bei der Verabschiedung von Nina, Jacob und Sarah ging es mir noch relativ gut – vor allem vor Sarah wollte ich nicht zusammenbrechen –, aber hier am Gate spüre ich, wie sehr es mir zu schaffen macht, wegen so einem Grund nach Hause fliegen zu müssen. Ich kann nicht in Worte fassen, wie viel es mir bedeutet, dass Christopher an meiner Seite ist. Marcus drückt mich zum Abschied nochmal so fest, dass es mir fast den Atem nimmt.
„Danke für alles, Mac! Du weißt gar nicht, wie sehr ich Dich liebe! Du bist immer für Dich da, egal wie es mir geht und das bedeutet mir eine Menge.“
Er klopft Christopher freundschaftlich auf die Schulter.
„Pass bitte auf meine Kleine auf, hörst Du! Und natürlich kannst Du auch jederzeit anrufen, wenn was ist.“
„Mach ich, danke!“

Als wir im Flieger sitzen und auf die Rollbahn fahren, nimmt mich Christopher in den Arm.
„Ich weiß, dass es Dir nicht leicht fallen wird, aber versuch zu schlafen. Deine Familie braucht Dich und Du nützt ihnen nichts, wenn Du mit einem Jetlag in den Seilen hängst.“
Ich weiß, dass er recht hat, aber ich brauche ewig, bis ich meinen Körper herunterfahren kann. Immer wieder kommen mir die Tränen, doch Christopher’s Wärme, seine Nähe und seine Berührungen beruhigen mich allmählich und ich schlafe letztendlich doch ein und werde erst wieder geweckt, als das Flugzeug in Deutschland unsanft auf dem Rollfeld aufsetzt.

Mit einem Taxi fahren wir zu meinem Zuhause und als ich aussteige, breche ich zusammen und falle vor dem Haus auf die Knie. Ich kann mich nicht beruhigen, weine, als gäbe es kein Morgen und habe solche Angst, die Tür zu öffnen und meiner Mum und meiner Oma entgegen zu treten. Christopher kniet sich neben mich, nimmt mich in den Arm, wiegt mich wie ein kleines Kind und zieht mich nach ein paar Minuten wieder nach oben.
„Es hat keinen Sinn, Schatz. Du musst Dich dem stellen. Ich musste das auch durchmachen und ich helfe Dir dabei!“

Ich sehe in die Gesichter meiner Familie, die mir die Tür öffnen und kann mich einfach nicht mehr beherrschen. Wir fallen uns in die Arme und nur langsam beruhigen wir uns.
„Das… das ist Christopher.“ stelle ich ihn kurz vor.
Ich hatte meiner Mutter schon von ihm am Telefon erzählt, so dass es mir jetzt erspart bleibt, alles zu erzählen. Ich bin froh, dass er neben mir steht und mir sanft über den Rücken streichelt. Die nächsten Tagen werden nicht leicht.

Insgesamt bleiben wir zwei Wochen in Deutschland. Meine Oma und auch meine Mutter sind kaum in der Lage etwas zu organisieren und ich versuche, alles in die Wege zu leiten. Irgendwie habe ich das Gefühl, die Starke in dieser Familie zu sein und Christopher hilft mir, wo er nur kann. Wenn ich merke, dass es mir wieder einmal den Boden unter den Füßen wegzieht, ist er da und fängt mich auf. Die Beerdigung ist der schlimmste Moment überhaupt und obwohl ich mit zusammenreißen will, gelingt es mir nicht.
„Nicky, es ist in Ordnung zu weinen. Du musst hier niemandem etwas beweisen!“
Kaum hat er diesen Satz zu Ende gesprochen, spüre ich den riesigen Kloß in meinem Hals noch weiter wachsen und ich breche in Tränen aus. Christopher dreht mich, so dass er mich richtig umarmen kann und es tut so gut, ihn bei mir zu haben. Auch nachts hilft er mir dabei, wenn ich nicht schlafen kann und das passiert in den zwei Wochen eigentlich ständig. Ich weine dann an seiner Brust und er streicht mir behutsam und beruhigend über den Kopf, wie ich es so oft bei ihm und Sarah gesehen habe.
„Christopher, ich bin Dir so dankbar, dass Du bei mir bist. Ich weiß nicht, ob ich es ohne Dich geschafft hätte.“

Eines Abends, als wir wieder einmal schweigend nebeneinander im Bett liegen und ich in seinen Armen meiner Trauer freien Lauf lasse, beginnt er.
„Schatz, ich hab mir so meine Gedanken gemacht. Über unsere Zukunft und so.“
Ich hebe den Kopf. „Was meinst Du damit?“
„Naja, vor allem wegen der Wohnungssituation. Du bist bei uns im Haus geblieben auch, nachdem ich den Gips los hatte und ich finde, es lief doch eigentlich ganz gut, oder? Was ich damit sagen will: ich möchte, dass Du bei mir bist – ständig, Tag und Nacht.“
„Meinst Du das im Ernst?“ schaue ich ihn fragend an. „Du… Du willst, dass ich zur Familie gehöre.“
„Schatz, das tust Du doch schon! Eigentlich ist es doch nur noch eine reine Formsache, dass Du offiziell bei uns einziehst.“
Er küsst mich und meine Augen füllen sich mit Tränen – diesmal aber ausnahmsweise vor Rührung.
„Aber…“ ich stottere. „Jacob?“
Christopher lächelt mich an. „Jacob? Ich glaube, dem kommt das mit Sicherheit auch ganz gelegen. Ich sag nur: Claudia.“
Nickend stimme ich ihm zu.

Zwei Tage später machen wir uns auf den Weg zum Flughafen. Ich verabschiede mich von meiner Familie, die mich und mein neues Leben natürlich voll und ganz respektieren und auch meinen Wunsch, wieder dorthin zurückzukehren.
„Pass auf Dich auf, Schatz!“ flüstert mir meine Mutter ins Ohr, als wir uns ein letztes Mal umarmen.
Mir rinnen Tränen die Wangen hinunter, als ich meine Oma umarme und ganz tief in meinem Inneren habe ich Angst, dass sie vielleicht der Grund sein könnte, warum ich das nächste Mal nach Deutschland komme – kommen muss. Ihr geht es auch schon seit längerem nicht mehr so gut und jeden Tag – vor allem in diesen zwei Wochen – musste ich daran denken. Christopher sieht mir an, dass ich darüber nachdenke, denn ich hatte diese Gedanken mit ihm besprochen und als wir im Taxi sitzen, nimmt er mich wieder einmal tröstend in den Arm.
„Sie ist eine starke Frau. Sie hat noch so viele Aufgaben hier zu erledigen und sie wird noch sehr alt werden – Du wirst sehen!“

* * * * *

Marcus und Jacob holen uns am Flughafen in Toronto ab. Ich freue mich, sie wieder zu sehen, aber als mich Marcus in den Arm nimmt und fragt, wie’s mir geht, schluchze ich erneut drauf los. Auch Jacob umarmt mich tröstend.
„Weißt Du was, Nicky? Ich denke, Du solltest bei uns einziehen und ich ziehe, sobald Marcus und Nina ausgezogen sind, in ihr Haus.“
Christopher und ich schauen uns beide an und dann Jacob, der unsere Blicke nicht ganz versteht.
„Was denn?“ Er zuckt mit den Schultern. „Keine gute Idee?“
Christopher klopft seinem kleinen Bruder auf die Schulter. „Du bist der Beste, Jay! Wir wollten nämlich mit Dir über genau dieses Thema sprechen.“
Jacob boxt Christopher brüderlich in die Seite.

Sarah kommt mir beschwingt an der Haustür entgegen. Kurz, bevor sie mich umarmt, schaut sie mich mit prüfendem Blick an.
„Geht’s Dir gut, Nicky?“
Ich knie mich vor sie hin und öffne meine Arme, was sie sofort versteht. Wir umarmen uns und ich fühle plötzlich Christopher’s und Jacob’s Blicke auf uns ruhen. Ich schaue zu den beiden und sehe in ihren Augen so etwas wie Rührung.

Am Abend sitzen wir zu dritt im Wohnzimmer und reden über die vergangenen zwei Wochen. Dabei gesteht uns auch Jacob, dass er sich mehrmals mit Claudia getroffen hat.
„Was heißt denn jetzt ‚getroffen’ genau, Bruderherz?“ fragt Christopher nach.
„Naja…“ er druckst herum. „Wir… hatten sehr schöne… gemeinsame Abende.“
Ich lächele erst Christopher, dann Jacob an.
„Nein, nicht, was Ihr jetzt denkt. Wir waren ein paar mal gemeinsam essen gewesen. Mehr nicht.“
Ich richte mich auf. „Wie wär’s, wenn Du sie am Wochenende zu uns einlädst und wir machen ein großes Dinner. Wir könnten auch Nina und Marcus einladen und uns bei ihnen für die Hilfe mit Sarah bedanken.“
Christopher nickt. „Das ist echt eine tolle Idee.“

Die nächsten Tage verlaufen relativ entspannt. Im Moment leben wir noch zu viert im Haus, aber es geht leichter als gedacht. Jacob ist ab und an abends unterwegs – mit Claudia –, so dass Christopher und ich Zeit für uns und Sarah haben.
„Ich hätte nie gedacht, dass mir noch einmal so etwas wie eine Familie gegönnt sein wird.“ sage ich eher zu mir, als wir zu dritt mit Sarah in der Mitte auf der Couch beim Fernsehen sitzen.
Christopher streichelt mir über den Arm. „Wo warst Du nur die ganzen Jahre?“
Ich schaue ihn an und antworte: „Gefangen im falschen Leben.“

Am Samstag Nachmittag kommen Nina, Marcus und Mathilda relativ zeitig, damit die Mädchen noch ein bisschen zusammen spielen können. Ich entscheide mich, mit den beiden auf den Spielplatz zu gehen und Marcus begleitet mich.
„Kommst Du mit den beiden Lawsons allein klar?“ frage ich Nina im Scherz und sie schaut leicht schmunzelnd zu Jacob und Christopher.
„Ich denke schon.“
Auf dem Weg und auch direkt auf dem Spielplatz reden Marcus und ich viel über unsere gemeinsame Kindheit – vor allem aber über die Zeit, die wir zusammen mit meinem Opa verbracht haben. Als wir auf einer Bank sitzen und Sarah und Mathilda beim spielen zuschauen, nimmt Marcus plötzlich meine Hand und legt sie in seine Hände. Er beginnt, ein Gebet zu sprechen und obwohl ich Atheist bin, schließe ich die Augen und lasse seine Worte in meinen Kopf und schließlich in mein Herz fließen. Es ist kein typisches „Lieber Gott“-Gebet, so dass es mir leichter fällt und ich habe das Gefühl, mein Opa wäre ganz nah bei mir. Marcus’ Worte sind wie Balsam auf meiner Seele und zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass der Schmerz eines Tages vergehen wird. Und ich weiß, dass die richtigen Menschen um mich sind und mir dabei helfen werden.

Als wir zurückkommen, ist bereits Claudia da und die vier sitzen im Wohnzimmer und unterhalten sich angeregt über – natürlich – Innenarchitektur. Nina sitzt fasziniert neben ihr und fragt sie aus, während Jacob seinen Blick nicht von Claudia abwendet. Christopher strahlt, als er mich sieht. Er drückt Marcus ein Glas Wein in die Hand und zieht mich in die Küche.
„Sag mal, Schatz, was hältst Du davon, wenn wir auch bei uns etwas ändern. Ich meine, was die Einrichtung betrifft. Man sagt doch immer, dass man bei einem neuen Lebensabschnitt auch sein Umfeld etwas ändern sollte.“
Ich finde die Idee super. „Und an was hast Du da so gedacht?“
„Ach“, winkt er ab. „Ich vertraue da voll und ganz auf Dich und Claudia. Sie hat sich das Haus etwas angeschaut, als ich ihr von meiner Idee erzählt habe und hat sich schon ein paar Gedanken gemacht. Vielleicht setzt Du Dich einfach mal mit ihr zusammen?“
Ich küsse Christopher.
„Wofür war denn das jetzt?“
„Ach, einfach nur dafür, dass Du da bist.“

Wir kochen zusammen und haben einen wunderschönen Abend. Jacob und Claudia können ihre Blicke nicht voneinander abwenden und wir alle bemerken, dass sie anscheinend auch füreinander gemacht sind. Da Mathilda vom spielen ziemlich k.o. ist, verabschieden sich Marcus und Nina relativ früh und auch Christopher und ich bringen Sarah beizeiten ins Bett. Als wir gerade wieder die Treppe herunter laufen, sehen wir, wie sich Jacob und Claudia auf der Couch küssen.
„Ich glaube, wir sind hier überflüssig!“ flüstert mir Christopher ins Ohr und wir entscheiden uns, im Bett noch ein wenig Fernsehen zu schauen.
Doch lange halten wir es nicht aus – die Leidenschaft überkommt uns. Nach diesen letzten beiden Wochen habe ich Sehnsucht nach Liebe und Christopher kann sie mir geben. Irgendwann hören wir die Tür unten ins Schloss fallen und wissen, dass wir ungestört sind, was uns einiges erleichtert.

* * * * *

In den nächsten Wochen geht es fleißig voran, was die Inneneinrichtung von Marcus’ und Nina’s und unser Haus anbetrifft. Nina, Claudia und ich sind des öfteren auf Shoppingtour und lassen die Männer allein. Da fast alles bereits im neuen Haus ist, zieht auch Jacob parallel um und es ist witzig, dass die Transporter nie leer sind – egal, ob wir vom alten zum neuen Haus fahren oder von Christopher’s zu Jacob’s neuem Zuhause. Christopher lässt mir freie Hand bei der Einrichtung, aber da ich seinen Geschmack schon kenne, hat er kaum etwas gegen die Dinge, die ich ihm vor die Nase halte. Als ich ihm ein Bild vom Strand von der Südsee in einem Katalog zeige, was ich gerne im Schlafzimmer hätte, wird er ernst und winkt ab.
„Das kommt mir nicht ins Haus!“
Ich bin irritiert – ich kann nicht so ganz seine Reaktion verstehen und frage vorsichtig nach.
„Das ist doch ein ganz normales Sandstrandfoto, was…“
Er schaut mich mit seinen großen Augen an und schluckt.
„Jessica und ich… wir…“
Wieder einmal habe ich den einen wunden Punkt getroffen und ich könnte mich selbst dafür ohrfeigen.
„Schon gut, Chris! Es tut mir leid! Ich nehme an… Hochzeitsreise?“
Mehr als nicken kann Christopher nicht und ich blättere schnell weiter, als er plötzlich bei einem Foto halt macht.
„Wie wär’s damit? Ein bisschen Heimat in Toronto?“
Ich muss lächeln, als ich das Brandenburger Tor sehe und finde es wunderschön. Es ist keine Fotografie, sondern ein modernes Gemälde, was super zu uns passt.
„Ja, Du hast recht. Das wäre perfekt!“ Wir suchen noch ein paar Dinge gemeinsam aus, schreiben alles auf eine Liste und ich maile sie Claudia.

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