Kapitel 22

Zwei Tage später kann ich endlich Christopher aus dem Krankenhaus abholen. Während Jacob sich um Christopher’s Sachen kümmert und ihm beim Anziehen hilft, sind Sarah und ich bei Dr. Richardson. Er erklärt mir geduldig, auf was ich achten muss, beschwört mich, dass ich ihn nicht aus den Augen lasse und er sich die nächsten drei Wochen schont. Wir müssen einmal die Woche vorbeikommen wegen den Verbänden an den Rippen. Sein Arm steckt in einem Gips, mit dem Christopher sehr gut zurande kommt, so dass es da keine Probleme gibt.
„Versprechen Sie mir, Ms. Fischer, dass ich ihn in eine gute Obhut entlasse.“
Lächelnd nicke ich ihn an. „Verlassen Sie sich auf mich, Dr. Richardson! Vielen Dank für alles.“
Er drückt Sarah noch einen Lolli in die Hand und dann kommen auch schon Jacob und Christopher aus dem Zimmer.
„Startklar?“ fragt mich Jacob.
„Von mir aus können wir.“ Christopher hakt sich bei mir ein und sein kleiner Bruder nimmt Sarah an die Hand. „Ihr glaubt gar nicht, wie froh ich bin, endlich hier raus zu kommen. Zu Hause kann ich wenigstens auch mal was anderes machen außer liegen und fernsehen…“
„Ha, untersteh Dich, Christopher!“ schelte ich ihn. „Du wirst Dich genauso schonen wie hier, damit das mal klar ist! Sonst…“
„Sonst was?“ unterbricht er mich.
Schelmisch grinse ich ihn an. „Sonst bekommst Du nicht meine 100%ige Aufmerksamkeit. Du verstehst?“ Er zwinkert mir zu – er versteht!

Als wir zu Hause ankommen und Christopher im Flur steht, holt er tief Luft.
„Wie ich diesen Geruch vermisst habe!“
Jacob und ich schauen uns fragend an. „Welchen Geruch, Bro?“
Wieder holt er tief Luft. „Der Geruch meines Hauses, meiner Familie – einfach den Geruch, den ich seit vier Jahren täglich in der Nase habe. Dieses eklige Krankenhaus-Desinfektionsmittel-Gemisch ätzt einem ja fast alles weg!“
Wir lachen herzhaft.
„Komm, Sarah“, Jacob steht mit der Sporttasche an der Treppe. „Wir bringen die Sachen von Deinem Daddy nach oben und Du kannst das Geschenk für ihn holen.“
„Ein Geschenk?“ schaut Christopher seine Tochter mit großen Augen an.
„Och menno, Onkel Jacob, jetzt hast Du alles verraten! Das ist gemein.“
Trotzig steht sie zwischen uns. Ich versuche zu schlichten.
„Sarah, Schatz, Onkel Jacob hat doch gar nichts verraten. Er hat uns nicht gesagt, was das Geschenk ist, also ist es immer noch eine Überraschung. Na, jetzt geh und hol es. Dein Daddy ist bestimmt schon total gespannt.“
Eifrig nickt Christopher. „Und wie, meine Süße! Ich warte im Wohnzimmer auf Dich, ja?“
Sarah schnappt sich den einen Henkel der Sporttasche und Jacob hat Mühe, ihr zu folgen. Lächelnd schauen Christopher und ich den beiden hinterher und dann treffen sich unsere Blicke. ‚Komm her’, scheinen mir seine Augen zu sagen und nur allzu gerne nähere ich mich und umarme ihn.
„Es ist…“ beginnt Christopher, aber ich lasse ihn nicht ausreden.
Ich lege meinen Finger auf seine Lippen, ertrinke fast im Braun seiner Augen und dann versinken wir beide in einem leidenschaftlichen Kuss.

„Daaaaaaaaaaaddyyyyyyyyyyyy!“ schreit Sarah, als sie trampelnd wieder nach unten kommt.
„Ich bin hier, mein Engel!“ erwidert Christopher.
„Hier ist mein Geschenk! Auspacken, auspacken!“ Sie quiekt regelrecht vor Aufregung.
„Lasst uns doch alle ins Wohnzimmer gehen. Da ist es bequemer“, schlage ich vor.
Christopher und Sarah setzen sich auf die Couch, während Jacob und ich und jeweils rechts und links auf die Armlehnen setzen. Unsere Augen werden riesengroß, als Christopher das Blatt Papier aus dem riesigen Umschlag herausholt: vier Figuren hat Sarah gemalt – drei große, eine Kleine, zwei männliche, zwei weibliche und aufgrund der Frisuren kann ich erkennen, wen sie da dargestellt hat.
„Ui, das ist aber ein hübsches Bild. Verrätst Du mir auch, wer die vier Leute sind?“ fragt Christopher sie.
„Daddy, das ist doch ganz klar. Das bist Du, ich, Nicky und Onkel Jacob. Das ist unser Haus und das ist die Sonne. Und alle halten sich aneinander, weil sie eine Familie sind.“
Christopher nimmt seine Kleine in den Arm und küsst sie auf den Haaransatz.
„Das ist wirklich wunderschön!“ sage ich eher zu Christopher als zu Sarah.
Ich blicke zu Jacob, der plötzlich mit ernstem Gesicht aufsteht.
„Ich… will… wie wär’s mit Kaffee und Kuchen?“
Noch bevor wir antworten können, ist er aus dem Wohnzimmer in die Küche verschwunden.
„Ich geh ihm mal dabei helfen, Chris. Du kommst klar?“ Er nickt.
„Ich hab doch Deine Hilfsschwester. Mach Dir keine Sorge, Nicky!“
Ich mach mir weniger Sorgen um Dich, geht es mir durch den Kopf.

In der Küche lehnt Jacob an der Arbeitsplatte und schaut auf den Fußboden.
„Jacob, alles… alles okay?“
Er schreckt hoch. „Ähm…“ Der Ansatz eines Lächelns ist zu sehen, aber es gelingt ihm nicht, es zu halten. „Ja ja, klar, mir geht’s gut.“
Wieso glaube ich ihm nicht? Er nimmt die Kaffeekanne, lässt Wasser hineinlaufen und schaut aus dem Fenster.
„Jacob, ich glaube, mehr passt nicht rein.“
Irritiert schaut er mich an – er versteht nicht, was ich meine. Mit meinem ganzen Körper schiebe ich ihn von der Spüle weg, nehme ihm die überfüllte Kanne aus der Hand und kümmere mich um den Kaffee. Als die Maschine sich langsam in Gang setzt, wende ich mich zu Jacob.
„Sprich mit mir, Jay! Ich seh' doch, dass Dir was auf der Seele liegt. Ist es… ist es wegen dem Bild?“
Er holt zweimal tief Luft, schluckt und sieht mich dann an. „Es ist schön zu sehen, dass Sarah jetzt endlich wieder eine komplette Familie hat, aber… Naja, die Konstellation… Es tut halt weh… Ich kann es nicht abstellen, so sehr ich mich auch bemühe.“
Ich berühre ihn sanft am Arm. „Jacob, das hat auch keiner von Dir verlangt. So was geht nicht von heute auf morgen und das weiß ich auch. Aber Du bist stark, das hab ich in den letzten Tagen mehr denn je gesehen und ich bin mir sicher, dass Du das hinkriegst!“
Seine blauen Augen mustern mich. „Dann bist Du im Moment die einzige, die diesbezüglich wirklich an mich glaubt.“
Zögernd stehe ich vor ihm, doch dann umarme ich ihn ganz fest und er erwidert es.
„Glaub an Dich, Jay, bitte! Es wird alles gut, vertrau mir!“

Plötzlich steht Christopher in der Tür mit Sarah neben ihm. Er räuspert sich und Jacob und ich lösen uns aus der Umarmung, aber nicht erschrocken, sondern ruhig. Instinktiv wissen wir beide, dass es so Christopher nicht falsch versteht.
„Soll ich vielleicht doch wieder ins Krankenhaus gehen.“
Ich höre den Unterton, bleibe aber sachlich, obwohl es mir sein Blick nicht gerade leicht macht.
„Wieso solltest Du? Wir brauchen Dich hier. Und ich wurde doch zur Krankenschwester befördert – wen soll ich denn versorgen, wenn Du nicht da bist?“
„Wie wär’s mit meinem Bruder?“ gibt er schroff zurück und schaut Jacob böse an.
Dieser schnappt sich Sarah und verlässt die Küche. „Komm, Sarah, wir decken schon mal den Tisch.“
Christopher schaut den beiden hinterher, während ich zu ihm gehe.
„Christopher, Schatz! Jacob ist Dein Bruder, ein Teil Deiner Familie, zu der ich auf Deinen Wunsch dazugehören darf. Es wird immer wieder solche Momente geben. Aber eins musst Du Dir immer vor Augen halten: ich bin deinetwegen hier. Du bist der Grund, warum ich zu dieser Familie gehören möchte! Weil ich Dich und nur Dich liebe! Das war immer so und das wird auch immer so sein. Okay?“
Er druckst herum, doch auch ohne, dass er etwas sagt, merke ich, dass er versteht. „Tut mir leid, Nicky. Es ist nur… Naja… Weil doch Jacob…“
Ich falle ihm ins Wort. „Du selbst hast vor zwei Tagen zu ihm gesagt, dass ein neues Jahr beginnt und die Dinge, die waren, der Vergangenheit angehören sollen. Lass uns daran festhalten.“
Er lächelt und nickt.
„Weißt Du, Chris, Jacob hat die schlimmsten Tage seines Lebens durchgemacht, als Du im Krankenhaus warst. Er hatte Angst, Dich zu verlieren und allein dazustehen. Obwohl Du jetzt wieder mehr oder weniger auf dem Dampfer bist, braucht er ab und an noch etwas… nennen wir es… Zuspruch, um ihn komplett aufzubauen. Und manchmal hilft auch eine einfache Umarmung schon.“
Ich kann seine Fassungslosigkeit in seinen Augen sehen. „War es wirklich so schlimm?“
Traurig senke ich den Kopf. „Der Anblick von Jacob im Krankenhaus an dem Tag, als Du verunglückt bist, war einfach nur schrecklich. Es hat mir das Herz gebrochen, ihn so zu sehen. Er hat geweint, ist fast vor meinen Augen zusammen gebrochen. Er liebt Dich abgöttisch. Du bist sein großer Bruder, seine Familie. Ich glaube, solltest Du wirklich einmal… Naja… Du weißt schon… Ich glaube, Jacob würde dann auch aufgeben.“
Christopher lehnt sich gegen den Tisch. „Oh mein Gott, ich hatte ja keine Ahnung. Mir gegenüber hat er immer den Starken gemimt. Dass ihn das so mitnimmt, wäre mir im Traum nicht eingefallen. Vielleicht sollte ich mal mit ihm reden.“

In diesem Moment kommt Jacob zurück. „Wie weit ist der Kaffee?“
Wir beide lächeln ihn an.
„Ist eben fertig geworden“, antworte ich ihm. „Du kannst die Kanne schon mal mitnehmen. Ich kümmere mich noch um den Kakao für Sarah und den Kuchen.“
Er nimmt mir den Kaffee ab und geht zurück ins Wohnzimmer – Christopher folgt ihm. Nach einer Weile kann ich hören, wie er etwas zu ihm sagt.
„Bro, können wir heute Abend mal kurz unter zwei Augen reden.“
Für einen Moment ist es still und ich wünsche mir, jetzt neben den beiden zu stehen.
„Ähm, sicher, klar.“
„Toll“, erwidert Christopher. „Dann schicken wir die beiden Mädels ins Bett und machen mal wieder ‘nen Bruderabend, ja?“
Lachend rufe ich nach draußen „Hey, das hab ich gehört!“ und gehe dann mit Kuchen und Kakao bewaffnet zu den beiden.
„Saaaaaaraaaaaah!“ ruft Jacob, aber sie scheint ihn nicht zu hören.
Sie ist draußen im Garten mit einer dicken Mütze auf dem Kopf und spielt im Schnee.
„Ich geh schon!“ sagt Christopher, während er Jacob am Handgelenk vom Loslaufen abhält.
Als er draußen ist, wendet sich Jacob zu mir. „Ähm, hat… will Chris ein Hühnchen mit mir rupfen oder will er echt nur normal mit mir reden?“
„Mach Dir keine Sorgen, Jay. Ich denke, er will einfach nur mal wieder in Ruhe mit Dir reden, weiter nichts. Das habt Ihr ja schon seit langem nicht mehr gemacht – es war ja zuletzt auch sehr… schwierig. Und jetzt leg Deine Stirn nicht so in Falten – sonst bleibt das irgendwann noch so und dann kannst Du Deine Anziehungskraft bei Frauen vergessen.“
Ich kneife ihn in den Arm und er muss lachen. Christopher kommt mit Sarah an der Hand zurück und sein Blick zu mir sagt nur eins: ich vertraue Dir – weil ich Dich liebe!

Ich beschließe, mit Sarah die Nacht in Marcus’ Haus zu verbringen, damit die Brüder zur Not die ganze Nacht zum Reden haben.
„Kommst Du auch ohne mich klar, Chris?“ frage ich ihn trotz allem leicht besorgt.
Jacob schubst mich zur Seite. „Ich werd das schon hinbekommen. Na los, jetzt zieht Ihr zwei mal von dannen.“
Christopher zieht mich zu sich nach unten und gibt mir einen Kuss.
„Viel Spaß Euch beiden. Wir sehen uns dann morgen.“
Wenn ich daran denke, dass Jacob morgen für mindestens drei Wochen wegfliegt – und das unter anderem auch wegen mir –, muss ich schlucken.
„Wir werden pünktlich wieder zurück sein.“
Ich hole Sarah’s Rucksack aus ihrem Zimmer, während sie sich von ihrem Daddy verabschiedet. Bevor wir allerdings zu mir fahren, gehen wir beide noch ins Kino zu einem Animationsfilm, so dass wir erst gegen 8 Uhr abends zu Hause sind.
„Wollen wir uns eine Pizza bestellen?“ frage ich Sarah. Sie nickt eifrig und nachdem wir uns aus der Karte etwas ausgesucht und angerufen haben, machen wir es uns auf der Couch gemütlich. Der Lieferant ist extrem schnell, so dass wir schon eine halbe Stunde später essen können. Es dauert nicht lang und Sarah schläft mit dem Kopf auf meinem Schoß ein. Ich bringe sie nach oben in mein Bett und hole dann eine Decke, um es mir selbst im Wohnzimmer bequem zu machen.

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