Kapitel 28

„Habe… habe ich etwa überreagiert?“
Nina und Marcus schütteln zeitgleich den Kopf.
„Das würde ich nicht sagen, Schatz. Du hast Dir so viel Mühe mit ihm gegeben, damit er schnell wieder gesund wird. Du hast Dich an die Anweisungen des Arztes gehalten, hast für ihn die Krankenschwester und für Sarah den Babysitter gespielt. So einen Satz als Dank dann zu bekommen, ist unter aller Kanone! Und er hat sich nicht mal entschuldigt?“
„Nein“, bringe ich leise hervor. „Er hat mich nur fast schon böse angeschaut und da wollte ich nicht mehr bleiben. Ich habe jetzt allerdings ein schlechtes Gewissen. Was, wenn jetzt wirklich etwas passiert – dann ist niemand da, der…“
Marcus nimmt mich in den Arm. „Er muss ein schlechtes Gewissen haben und wenn etwas passieren sollte, ist es nicht Deine Schuld. Halte Dir das bitte vor Augen. Du bist keine Krankenschwester und Du bist auch kein Babysitter. Er sollte doch sehen, dass Du das alles freiwillig machst, damit sein Alltag funktioniert. Ich kann echt nicht glauben, dass er so was gesagt hat.“
Er schüttelt den Kopf, als sich Nina einschaltet. „Naja, irgendwie kann ich ihn ein klein wenig verstehen.“
Ich drehe irritiert meinen Kopf in ihre Richtung und schaue sie fragend an.
„Versteh mich nicht falsch, Nicky. Dir das an den Kopf zu werfen, ist nicht die feine englische Art, aber für einen Mann seines Kalibers muss es doch schlimm sein, nicht Herr über sein eigenes Reich zu sein. Ich meine, dass er bei gewissen Dingen auf andere Leute angewiesen ist. Weißt Du, ich kann mir gut vorstellen, dass er es in genau diesem Moment schon wieder bereut.“

Ich lass mir Nina’s Worte durch den Kopf gehen und insgeheim spüre ich, dass sie wahrscheinlich recht hat. Aber was soll ich jetzt tun? Soll ich wieder zurückfahren und so tun, als wäre nichts gewesen? Das kann ich nicht – dazu kenne ich mich zu gut. Doch Nina nimmt mir die Entscheidung ab.
„Weißt Du was? Du bleibst jetzt erstmal hier. Ich bin mir sicher, dass Christopher weiß, wo er als erstes nach Dir suchen wird. Vielleicht brauchst Du auch einfach nur mal kurz Zeit, um wieder ‘nen klaren Kopf zu bekommen und dann willst Du eventuell schon wieder zu ihm. Du bist bei uns immer willkommen – egal, was ist. Denk bitte immer daran.“
Dankbar lächele ich sie und Marcus an.
„Was würde ich nur ohne Euch machen?“
„Ohne uns hättest Du diese Probleme gar nicht“, grinst er mich an. „Dann wärst Du nämlich nie nach Toronto gekommen, hättest nie Christopher kennen gelernt und müsstest jetzt nicht Krankenschwester spielen.“
Wir müssen lachen. Er schafft es immer wieder, mich aus meinen Tiefs herauszuholen und dafür liebe ich ihn.
„So“, ergreift Nina das Wort. „Und jetzt kümmer' ich mich weiter ums Mittagessen und Dir mach ich erstmal ‘nen Kaffee. Du solltest Dir allerdings vorher vielleicht etwas Wasser ins Gesicht spritzen, damit Du wieder wie ein Mensch aussiehst.“
Sie kneift mir in die Seite und ich spüre, wie es mir besser geht. Die beiden haben ein Talent, einen aufzumuntern, das ist der Wahnsinn.

Ich helfe Nina in der Küche und nachdem wir alle gegessen haben, schickt sie mich nach oben ins Gästezimmer.
„Ein bisschen Schlaf tut Dir sicher ganz gut. Danach sieht die Welt gleich ganz anders aus.“
Ich muss lächeln, denn ich sehe meine Mutter in ihr. Diese hatte auch immer so einen Spruch auf Lager – der zu 99 % auch immer stimmte. Es dauert nicht lang und ich bin eingeschlafen. Es dämmert bereits, als ich meine Augen wieder öffne. Ich fühle mich bereits viel besser – vor allem aber habe ich das Gefühl, wieder Kräfte gesammelt zu haben. In den letzten Wochen war ich ja immer die letzte, die abends im Bett war und die erste, die morgens in der Küche stand. Vielleicht war einfach das ganze zusammen zu viel für mich. Ich drehe mich auf die Seite und vernehme plötzlich ein dumpfes Brummen in meiner Tasche, die ich neben mich gestellt hatte. Ich krame das Handy heraus und Christopher’s Nummer erscheint auf dem Display. Mein Herz will den Anruf entgegennehmen, allerdings wehrt sich mein Kopf dagegen. Doch bevor ich mich entscheiden kann, hat er bereits wieder aufgelegt. Ich sehe, dass es nicht sein erster Anruf war – bereits drei unbeantwortete Anrufe erscheinen in meiner Liste. Dann höre ich unten das Telefon klingeln. Ob es Christopher ist, der es jetzt hier probiert? Angestrengt versuche ich, zu hören, was Marcus, der den Anruf entgegengenommen hat, sagt, doch leider verstehe ich nur Bruchstücke:
„Hallo… nein… vorhin… schläft… günstig…“
Viel mehr verstehe ich nicht. In meinem Kopf arbeitet es, doch dann schlafe ich erneut ein.

Ich werde vom erneuten Brummen meines Handys geweckt. Ok, Christopher, Du hast gewonnen. Doch als ich auf das Display schaue, bin ich überrascht: Jacob.
„Hi, Nicky! Wollt nur mal hören, wie’s so auf der Krankenstation läuft. Alles im grünen Bereich?“
Ich hole kurz Luft. „Ähm… hi Jacob… ähm… ja, alles in Ordnung.“
Anscheinend scheint mich auch Jacob bereits so gut zu kennen, dass er zwischen den Zeilen und meinem Gestottere lesen kann.
„Das nehm' ich Dir jetzt aber nicht ab. Was ist denn los?“
„Ähm… nichts… wieso?“ antworte ich und versuche, so normal wie möglich zu klingen, aber ohne Erfolg.
„Nicky, mach mir nichts vor. Irgendwas ist doch!“
Ich überlege, ob ich ihm bis ins Detail von dem Streit erzählen soll, aber ich beschließe, es oberflächlich zu halten.
„Ach, Christopher und ich hatten uns heute ein wenig in den Haaren, aber nichts…“ Ich schlucke kurz. „Aber nichts weltbewegendes.“
Kurze Stille am anderen Ende. „Aha. Aber wenn es etwas weltbewegendes sein sollte, würdest Du mir es sagen, oder?“
„Natürlich, Jacob, aber es ist nichts weiter. Mach Dir keine Sorgen! Wie läuft’s denn eigentlich mit den Maklern?“
Jacob erzählt mir von seinen Treffen und dass es alles sehr positiv verlaufen ist. „Ich denke, unsere Expansion wird klappen.“
Ein Lächeln erscheint auf meinem Gesicht. „Freut mich für Dich, ich meine, für Euch! Christopher wird sich sicher freuen.“

Wir haben kaum aufgelegt, als Nina ins Zimmer kommt.
„Oh, Du bist wach. Ich wollte Dich gerade zum Abendessen wecken. Geht’s Dir etwas besser?“
Ich nicke. „Ja, viel besser. Aber ich weiß immer noch nicht, ob ich zurückgehen soll. Ich meine – heute Abend?“
„Das ist Deine Entscheidung und die kann ich Dir nicht abnehmen, Nicky, aber Du weißt, dass dieses Zimmer Dir immer zur Verfügung steht. Und jetzt komm, sonst wird das Essen kalt.“
Ich mache mich kurz frisch und gehe dann nach unten, wo mich Kinderstimmen empfangen. Im ersten Moment denke ich mir nichts dabei, doch dann höre ich genauer hin: es sind zwei Kinder-, zwei Mädchenstimmen und ich kenne beide. Ich bleibe abrupt auf der Treppe stehen und lausche Mathilda… und Sarah. Was macht Sarah hier? Ich hocke mich hin und schaue durch das Geländer. Die beiden Mädchen spielen auf dem Flur, während sich Marcus in der Küche mit Christopher unterhält. Christopher?! Oh mein Gott, wieso ist Christopher hier? Ich merke, wie sich mein Magen zusammenzieht. Aber nicht vor Angst, sondern vor… Freude! Ja, ich bin glücklich, ihn zu sehen. Ich setze mich auf die Stufen und höre zu.
„Du hast Nicky sehr verletzt mit dem, was Du gesagt hast, Christopher!“ sagt Marcus. „Ich lasse nicht zu, dass Du ihr weh tut, auch wenn sie Dich noch so liebt, ist das klar?“
„Marcus, ich weiß, dass ich einen Fehler gemacht habe. Glaube mir, ich wollte das nicht! Ich hätte ihr nachlaufen sollen, um es ihr zu erklären. Der Satz kam einfach falsch rüber! Ich wollte ihr nur sagen, dass… Ach, ich weiß auch nicht! Ich hasse es, nicht mein eigener Herr und auf andere angewiesen zu sein. Ich bin das nicht gewöhnt!“
Christopher stockt kurz und senkt den Kopf.
„Weißt Du, Marcus, Nicky bedeutet mir viel, sehr viel sogar und ich möchte nicht, dass ich sie durch so einen Mist verliere. Ich weiß, dass sie das alles nie hätte tun müssen. Sie hat sich rührend um mich und Sarah gekümmert. Ich weiß das wirklich zu schätzen. Aber… Naja… Ich denke, es war einfach zu viel für mich – diese Hilflosigkeit. Marcus, ich brauch sie wirklich, echt jetzt! Und zwar weil ich sie liebe und sie mein Leben wieder komplett gemacht hat!“
Jetzt schaltet sich Nina ein. „Dir ist es wirklich ernst mit ihr, oder?“
„Ja.“ erwidert Christopher. „Und was mich nochmal so sicher macht ist die Tatsache, dass Sarah sich so sehr mit ihr versteht und sie… naja… ich weiß nicht, ob Nicky Euch davon erzählt hat, aber sie hat Nicky gefragt, ob sie ihre neue Mami sein will.“
„Is nich wahr!“ schreit Marcus fast hervor.
Christopher lacht. „Doch. Ich weiß, dass sie Jacob, mich und Nicky gefragt hat, ob das geht. Und das bedeutet mir ne Menge, denn die Frau, mit der ich ein neues Leben anfangen würde, muss mit Sarah klar kommen und… naja, Nicky ist perfekt.“

Ich höre Teller klirren und lehne für einen kurzen Moment meinen Kopf an die Streben des Geländers und schließe meine Augen. Mir laufen Tränen die Wangen hinunter und ich habe Mühe, dabei leise zu sein. Plötzlich berührt mich eine Hand an der Schulter und ich zucke zusammen: Marcus steht vor mir, ohne dass ich ihn hab kommen hören. Er sagt kein Wort, sondern setzt sich zu mir und nimmt mich in den Arm. Ich denke, er weiß, was ich fühle. Nachdem ich mich wieder beruhigt habe, richte ich mich auf und er schaut mir in die Augen. Mehr als ein Lächeln und ein Nicken bekomme ich nicht von ihm, aber wir kennen uns einfach viel zu lange, als dass ich diese Gesten nicht deuten könnte. ‚Christopher ist der richtige, Nicky. Er ist die Arbeit wert!’ Mit einem Lächeln meinerseits zeige ich ihm, dass ich verstanden habe. Er steht auf und zieht mich mit hoch.
„Christopher, kommst Du bitte mal.“ ruft er in die Küche und schon steht dieser im Flur.
Christopher schaut mich mit seinen großen braunen Augen an und ich kann darin lesen wie in einem offenen Buch: ‚Es tut mir so unendlich leid, Nicky!’

Christopher kommt an die erste Stufe der Treppe und ich gehe zu ihm. Immer noch rinnen mir einzelne Tränen die Wangen hinab und er hebt seinen Arm, um sie mir wegzuwischen. Als ich seine Hand spüre, kann ich nicht anders: ich falle ihm um den Hals! Zwischen vereinzelten Schluchzern flüstere ich ihm ins Ohr.
„Es tut mir leid, Christopher, dass ich einfach so davon gelaufen bin. Es tut mir leid, dass ich Dich zu sehr bemuttert habe. Es tut mir…“
„Hör auf, Nicky!“ fällt er mir ins Wort. „Du brauchst Dich für nichts zu entschuldigen! Naja, höchstens für’s Weglaufen.“ Er grinst mich an. „Du hast Dich rund um die Uhr um mich und Sarah gekümmert und so danke ich es Dir. Ich bin derjenige, der sich entschuldigen muss. Nicky, natürlich brauche ich Dich! Ich… ich brauche Dich wie… wie… wie die Luft zum Atmen!“
Nina und Marcus beobachten uns von der Küche aus und Arm in Arm lächeln sie uns an. Ich gebe Christopher einen Kuss.
„Ich Dich auch, Schatz! Ich brauche Dich auch mehr als alles andere!“
„Können wir dann jetzt endlich essen?“ ruft Marcus mit einem Gesicht, dass uns alle zum Lachen bringt.
„Mathilda, Sarah, kommt Ihr bitte?“ holt Nina die beiden Mädchen in die Küche.

Nach dem Essen beginnt plötzlich Christopher.
„Marcus, Nina, ich wollte noch etwas mit Euch besprechen. Eigentlich wollte ich das erst machen, wenn wir bei dem Notar alles bezüglich dem Hauskauf geregelt haben, aber wenn wir hier schon mal alle zusammen sitzen, kann ich es auch jetzt machen.“
Nina’s Augen werden ganz groß. „Was kommt denn jetzt?“
Christopher holt tief Luft und erzählt dann von seinem Plan, mir das Haus zu überlassen, nachdem sie in das neue eingezogen sind, bis ich mir sicher bin, zu ihm zu ziehen und es dann Jacob zu überschreiben.
„Also eigentlich wollte ich ja Jacob, sobald ich ihn wieder sehe, noch eine reinhauen, wegen…“
Ich falle ihm ins Wort. „Marcus! Bitte, lass das Thema!“
Er schaut mich entschuldigend an. „Ich glaube, ich sollte mich bei ihm bedanken, dass er und Du, Christopher, auf diese grandiose Idee gekommen seid. Dann wissen wir wenigstens, dass unser erstes eigenes Heim hier in Kanada in gute Hände kommt. Ich finde es echt einen tollen Vorschlag!“
Christopher und ich schauen uns an und er nimmt meine Hand.
„Sag mal, Chris, wie bist Du eigentlich hier her gekommen?“ schaue ich ihn fragend an.
„Genau so wie Du, Schatz – mit dem Taxi! Ich frag mich eh, warum Du nicht mein Auto genommen hast?“
Ich weiß darauf keine Antwort und zucke deshalb nur mit den Schultern.
„Soll ich Euch drei später nach Hause fahren oder wollt Ihr einfach hier bleiben?“
Ich überlege kurz und antworte dann. „Ich glaube, es wäre ganz gut, wenn wir bei Christopher schlafen. Er braucht ja auch sein Antibiotika und es wäre nicht gut, wenn er…“
Plötzlich stocke ich und schaue ihn an. „Es tut mir leid, Chris, jetzt fang ich schon wieder an zu bemuttern. Du entscheidest!“
Er lächelt. „Nein, nein, ich weiß ja, dass Du recht hast.“ Und an Marcus gewendet. „Wäre super, wenn Du uns nach Hause fährst, Marcus.“

Als wir später wieder bei Christopher sind, bringe ich Sarah ins Bett, die bereits auf der Fahrt eingeschlafen war und ihren Kopf auf meinem Schoß hatte. Nachdem ich sie zugedeckt habe, bleibe ich noch einen Moment auf ihrem Bett sitzen und beobachte sie. Ich höre Christopher nicht, der im Türrahmen steht. Leise flüstere ich zu Sarah:
„Ich liebe Dich, Sarah, und ich werde alles tun, um für Dich eine gute Mutter zu sein.“
Ich gebe ihr einen sanften Kuss auf die Stirn, streiche ihr eine Strähne aus dem Gesicht und mache dann die Nachttischlampe aus. Als ich aufstehe und mich umdrehe, erschrecke ich kurz, als ich Christopher erblicke.
„Und ich liebe Dich, Nicky, und werde alles dafür tun, Dich immer nur lächeln zu sehen. Bitte schlaf heute Nacht bei mir.“
Er sieht meinen zögernden Blick und nimmt mich in den Arm, als ich die Tür von Sarah’s Zimmer geschlossen habe.
„Mir geht es viel besser und ich bin sicher, dass nichts dagegen spricht, wenn Du einfach nur neben mir liegst und ich Dich spüre.“
20 Minuten später haben wir uns beide unter die Decke gekuschelt, doch ich halte Abstand. Noch immer habe ich Angst, ihm weh zu tun.
„Nicky, Du weißt doch, was Dr. Richardson vor drei Tagen gesagt hat. Die Wunde am Bauch ist gut verheilt und nächste Woche können schon die Fäden gezogen werden.“ Er zieht mich zu sich, ich lege meinen Kopf auf seinen Arm und meine Hand auf seine Brust. Ruhig hebt sich sein Oberkörper und seine Hand streichelt über meine Schulter, bis er schließlich einschläft. Ich liege noch eine Weile wach neben ihm, sauge seinen Geruch ein und genieße einfach diesen Moment.

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