Kapitel 35

Nina und ich warten, bis Claudia weggefahren ist und dann schauen wir uns an.
„Also, das lief ja mehr wie geschmiert!“ kreischt Nina fast und klatscht wie ein kleines Kind in die Hände.
Das müssen die Hormone sein, grinse ich innerlich.
„Hast Du was anderes erwartet?“ lächele ich. „Wenn wir was anpacken, dann wird das auch.“
Wir klatschen uns ab. 

So, dann bring ich Dich mal wieder nach Hause und dann werde ich Mac beichten, was ich alles gekauft habe.“
Nina spielt übertrieben ängstlich.
„Ach komm“, tröste ich sie. „Mac kann Dir doch eh nix abschlagen.“
Auf dem Weg erzähle ich Nina von dem Gespräch mit Claudia im Café und sie freut sich.
„Hach, ist das schön, dass es jetzt anscheinend für Jacob auch endlich aufwärts geht. Ist schon witzig, oder?“
Ich schaue sie an. „Was ist witzig?“
„Naja, irgendwie alles. Diese ganzen Zufälle! Ein Immobilienmakler rempelt Dich an, als wir gerade auf der Suche nach einem Haus sind. Dann lernt dessen Bruder eine Innenarchitektin kennen, was mir natürlich auch mehr als gelegen kommt. Und außerdem seid Du und Claudia beide Deutsche. Also das ist schon nicht mehr Zufall – das muss Schicksal sein.“
Ich nicke und schaue gedankenverloren aus dem Fenster. Sie hat recht – vielleicht gibt es Gott ja doch.

Als Nina den Wagen in der Auffahrt parkt, kommt Christopher uns entgegen. In den ganzen Deko-Geschäften konnte auch ich mich nicht zurückhalten und habe ein paar Kleinigkeiten gekauft. Christopher nimmt mir ein paar Tüten ab und auch Nina hilft mir mit zwei sperrigen kleinen Kartons. Wir wollen gerade Nina zum Wagen bringen, als mein Handy klingelt.
„Ich komme gleich, Schatz!“ sage ich zu Christopher und bleibe im Türrahmen stehen.
Was ich dann höre, als ich den Anruf entgegennehme, nimmt mir fast den Atem. Ich kann nichts sagen, höre einfach nur zu und als ich auflege, habe ich das Gefühl, mir wird der Boden unter den Füßen weggezogen. Ich lehne mich an die Hauswand und rutsche langsam nach unten, um dann auf dem kalten Fliesenboden vor der Haustür zu landen. Ich schaue ins Leere, ziehe die Beine an meine Brust, umklammere sie und kann kaum atmen.

Aus der Ferne höre ich Christopher rufen, doch mehr als meinen Namen kann ich nicht vernehmen. Auch Nina’s Stimme dringt in meinen Kopf – doch von sehr weit weg. Plötzlich spüre ich Christopher’s Hände an meinen Schultern.
„Nicky, Schatz, was ist passiert? Bitte, red mit mir! Sieh mich an! Nicky, hörst Du mich?“
Er schreit mich fast an, doch noch immer bin ich ganz woanders! Nina’s Hand landet ein paar mal etwas unsanft auf meiner Wange und ich komme wieder zu mir.
„Schatz, was ist passiert?“
Ich drehe mich zu Christopher, schaue ihm in die Augen und gerade, als ich antworten will, bricht es aus mir heraus. Tränen füllen meine Augen, rinnen an meinem Gesicht herab und ich schluchze ohne Unterlass. Christopher nimmt mich in den Arm, wiegt mich und Nina streichelt mir über den Rücken.
„Was ist nur passiert, Nicky, was ist nur passiert?“
Jedes Mal, wenn ich ansetzen will, versagt meine Stimme auf’s Neue. Ich kann spüren, wie mir jemand mein Handy aus der Hand nimmt, was ich die ganze Zeit fest umklammert hielt und höre, wie Nina zu Christopher spricht.
„Der letzte Anrufer war Nicky’s Mum.“

Nun höre ich auch Jacob’s Stimme, der ganz aufgeregt auf Christopher einspricht.
„Chris, was ist passiert?“
Ich hebe meinen Kopf und sehe in ein entsetztes Gesicht.
„Schatz, Du musst aufstehen, auf den kalten Fließen holst Du Dir noch den Tod!“
Ich bin nicht in der Lage, allein aufzustehen und Christopher zieht mich nach oben. Er nimmt mich in den Arm und bringt mich ins Haus. Nina und Jacob folgen uns. Die beiden setzen sich vor mich in die Sessel, während Christopher mich nicht loslässt und neben mir auf der Couch sitzt.
„Nicky, bitte sprich mit uns!“ fleht mich Nina an.
Ich schlucke, um meinen Kloß im Hals wegzubekommen und wische mir die Tränen aus dem Gesicht.
„Das war… meine Mum… Mein Opa…“
Nicht in der Lage, den Satz zu Ende zu sprechen, breche ich erneut zusammen und verkrieche mich in Christopher’s Umarmung. Er streichelt mir über die Haare.
„Hatte Dein Opa… ist ihm etwas passiert?“ fragt er vorsichtig und ich nicke.
Jacob hakt nach. „Geht’s ihm gut?“
Ganz leicht schüttele ich den Kopf und Christopher umarmt mich komplett.
„Schatz, es tut mir so leid!“
Nina kommt zu mir und kniet sich vor das Sofa, während sie ihre Hände auf meine Beine legt.
„Oh mein Gott, Nicky! Ich kann es nicht glauben! Wenn wir irgendetwas für Dich tun können… Wir sind für Dich da!“
Ich schaue sie aus den Augenwinkeln an und versuche ein dankbares Lächeln aufzusetzen. Jacob setzt sich ebenfalls auf’s Sofa und legt behutsam seine Hand auf meinen Rücken.
„Wir sind für Dich da, Nicky, egal was ist!“
So richtig konzentrieren kann ich mich nicht – ich fühle nur die warme Umarmung von Christopher, was mir Kraft gibt.
„Christopher, ich… ich muss sofort nach Deutschland fliegen.“ stammele ich. „So schnell es geht.“
Er nickt und antwortet. „Natürlich, Nicky! Ich ruf sofort an und buche Dir einen Flug.“
Er steht auf und Nina nimmt mich in den Arm.
„So blöd es auch klingt, Nicky, aber vielleicht ist es Dir ein kleiner Trost zu wissen, dass Du jetzt einen Schutzengel an Deiner Seite hast, denn wenn ein geliebter Mensch aus der Familie stirbt, übernimmt dieser diese Rolle.“
Ich schaue sie an und muss schlucken. Mehr als ein ‚Danke’ bekomme ich allerdings nicht zu Stande.

Christopher ruft aus der Küche.
„Jacob, Nina, könnte ich Euch mal kurz sprechen?“
„Können wir Dich einen Moment allein lassen, Nicky?“ fragt mich Jacob.
„K… Klar!“
Als die beiden weg sind, vergrabe ich mein Gesicht in meinen Händen, ziehe die Beine an meinen Körper und verkrieche mich in der Couch. Noch immer kann ich kaum klar denken, nur eins weiß ich: mein geliebter Opa, der Mensch, der soviel wie sonst niemand von mir weiß, ist tot. Weg. Von der Erde verschwunden. Ich versuche mir einzureden, dass Nina recht hat, aber ich bin Atheist und habe mit solchen Dingen so meine Schwierigkeiten.

Die drei kommen zurück und Christopher hockt sich vor mich.
„Schatz, möchtest Du vielleicht, dass ich mit nach Deutschland komme, um Dir beizustehen in dieser schweren Zeit?“
Ich schaue ihn mit großen Augen an. „Aber… Sarah… ich kann… ich kann das nicht von Dir verlangen!“
Mit seinen warmen Händen streichelt er mir über den Kopf und meine Wangen.
„Schatz, ich hätte nicht gefragt, wenn ich es nicht wollte. Und wegen Sarah mach Dir keinen Kopf. Ich habe mit Nina und Jacob deswegen gesprochen.“
Ich schaue überrascht Nina an.
„Ich werde mich um Sarah kümmern, das ist absolut kein Problem. Mach Dir keine Sorgen – Du kümmerst Dich jetzt um Dich, hörst Du?“
„Danke, Nina, und… danke, Christopher! Ich hätte mich nie getraut, Dich zu fragen!“

„Nicky, soll ich Dir beim Packen helfen?“ fragt mich Nina.
„Danke, Nina. Das wäre toll!“ Jacob streichelt mir noch einmal über den Arm und geht dann mit Christopher ins Arbeitszimmer.
„Wann willst Du fliegen, Schatz?“ fragt er mich, als ich schon halb auf der Treppe bin.
„Egal, Hauptsache so schnell wie möglich.“
„Nina, bringst Du mir bitte Nicky’s Pass dann noch runter?“ ruft er noch, als ich schon im Schlafzimmer bin.
Ich drücke ihr das Dokument in die Hand und als sie weg ist, lasse ich mich auf’s Bett fallen und starre ins Leere.

In diesem Moment kommt Sarah ins Zimmer – zuerst ganz aufgedreht, doch als sie mir in die Augen sieht, verändert sich ihr Gesicht.
„Nicky?“ fragt sie zaghaft und stellt sich vor mich. „Hast Du geweint?“
Ich versuche, meinen Tränen zu unterdrücken. „Ja, Schatz!“
Mit ihrer kindlichen Intuition streichelt sie mir über meinen Handrücken.
„Warum?“
„Weißt Du, Sarah, mein Opa ist jetzt im Himmel und das tut mir weh.“
Sarah setzt sich auf’s Bett und schaut mich mit großen Augen an. Ich habe wieder mal das Gefühl, Christopher sitzt neben mir.
„Dann ist er jetzt bei meiner Mami, oder?“
Das hatte ich total vergessen und ich bin überrascht.
„Stimmt. Die beiden sind jetzt zusammen.“
Sie lehnt ihren Kopf an meinen Arm und ich umarme sie. Auch, wenn sie nur ein Kind von gerade mal vier Jahren ist – sie gibt mir auf eine unerklärliche Weise Kraft.

Nina kommt wieder nach oben.
„Wo ist Dein Koffer, Nicky?“
Ich zeige in die Ecke und sie beginnt, ein paar Sachen hineinzupacken. Immer mal wieder hält sie mir etwas hin und ich nicke: Kann mit, ja.
„Gut, dass Du noch nicht wieder zu uns gezogen bist. Macht es jetzt etwas einfacher.“
Sarah klettert vom Bett und geht in ihr Zimmer. Zwei Minuten später ist sie wieder da und legt einen Teddybär auf meinen fast schon fertig gepackten Koffer. Ich schaue sie überrascht, fragend und lächelnd an.
„Das ist mein Lieblingsteddy Muffin. Damit Du nachts gut einschlafen kannst.“
Nina streicht ihr über’s Haar. „Das ist aber nett von Dir, Sarah.“
Auch ich bedanke mich bei ihr – mit einem Kuss. „Ich hab Dich sehr lieb, Sarah!“

Plötzlich steht Marcus im Zimmer. Als er mich sieht, kommt er sofort auf mich zu und nimmt mich in den Arm.
„Es tut mir so unendlich leid für Dich, Süße! Bitte gib Deiner Mum und Deiner Oma einen dicken Kuss von mir, ja? Ich bin in Gedanken bei Euch! Wenn ich was tun kann…“
In seiner Umarmung verliere ich wieder die Fassung.
„Dass Ihr alle für mich da seid, reicht voll und ganz. Ich weiß nicht, was ich ohne Euch tun würde!“
Marcus wischt mir vorsichtig die Tränen weg.
„Du weißt, dass er auch für mich wie ein Opa war. Lass alles raus, aber denk immer daran: Dein Opa ist jetzt immer bei Dir – als Dein Schutzengel. Da bin ich mir ganz sicher!“
Jetzt kommen auch Jacob und Christopher ins Zimmer.
„Unser Flieger geht in vier Stunden – die letzte Maschine heute. Wir haben Glück gehabt.“
Nina nimmt Sarah an die Hand. „Sarah, möchtest Du die nächsten Tage bei Mathilda und bei uns schlafen? Dein Daddy fliegt zusammen mit Nicky nach Deutschland zu ihrer Familie und damit Du nicht allein bist und sich Dein Onkel um die Erwachsenensachen kümmern kann, darfst Du bei uns wohnen – wenn Du willst.“
Ihre Augen beginnen zu strahlen. „Oh ja, das ist ja toll!“
„Ich ruf noch bei den Nachbarn an wegen der Fahrgemeinschaft und sage dem Kindergarten morgen früh, dass sie in den nächsten Tagen nicht kommt. Ist das okay für Dich, Nina?“ wirft Jacob ein.
„Natürlich! Ich bin ja sowieso zu Hause. Kein Problem.“

Jacob und Nina gehen aus dem Zimmer, während Marcus mich noch immer im Arm hält und Christopher neben uns packt.
„Christopher, soll ich Euch zum Flughafen bringen?“ fragt Marcus.
„Das wäre toll, danke Dir!“
„Nicky“, richtet er das Wort an mich. „Bitte melde Dich, wenn Ihr gelandet seid, ja?“
Ich nicke.
„Und lass Dir soviel Zeit, wie Du brauchst in Deutschland. Wir sind hier und kümmern uns um alles. Christopher, das gilt auch für Dich.“

Kommentare