Kapitel 26

Am nächsten Morgen nach dem Frühstück springe ich in meine Klamotten und Christopher gibt mir seine Wagenschlüssel.
„Der ist größer als der Wagen von Marcus und ich kann mir vorstellen, dass sie etwas mehr Gepäck mitbringen. Mütter packen immer gern noch was ein.“
Ich küsse ihn zum Abschied und gegen halb 11 Uhr mache ich mich auf den Weg. Ich fahre zuerst zu ihrem Haus, schaue, ob alles in Ordnung ist und kippe die Fenster im ersten Stock, um die frische Morgenluft herein zu lassen. Ich leere den Briefkasten, den ich seit gut vier Tagen nicht gecheckt habe, doch außer etlicher Werbung und zwei Briefen ist nichts weiter angekommen. Die leeren Mülltonnen schiebe ich zurück hinter das Haus und dann breche ich auch schon wieder auf. In gut einer Stunde landet die Maschine aus Deutschland.

So ganz geheuer ist mir der große Jeep von Christopher nicht, obwohl er natürlich viel geräumiger ist und mit Sicherheit praktisch. Aber das Einparken am Flughafen treibt mir dann doch die Schweißperlen auf die Stirn. Ein netter Parkwächter beobachtet mich ein paar Minuten, kommt dann zu mir und weist mich ein.
„Na, das Auto ist wohl etwas zu groß für Sie, was?“
Nickend erwidere ich. „Erstens das und zweitens ist das nur das Auto von einem Freund. Ich selbst kann mit meinem sehr gut einparken.“
Der denkt wohl immer noch engstirnig wie im Mittelalter: Frauen und Einparken. Nicht aufregen, Nicky, lächelnd danke sagen und gehen. Im Terminal ist die Hölle los. Die Ferien in Ontario sind fast vorbei und jetzt kommen die Urlauber zurück. Ich suche den Flieger auf der Anzeigentafel und bahne mir dann den Weg durch die Fluggäste zum Gate. „Landed“ steht auf dem Monitor über der Glastür und ich stelle mich an eine Säule in Sichtweite. Es dauert nicht mal 15 Minuten und schon kann ich Marcus sehen.
„Tante Nicky, Tante Nicky!“ schreit es aus der Menge.
Mathilda sieht mich eher als ich sie und ich gehe in die Hocke, um sie in meine Arme zu schließen.
„Hallo, mein Schatz! Schön, Dich wieder zu sehen!“
Sie drückt mich überschwänglich, als hätten wir uns eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.
„Und was ist mit uns?“ höre ich Marcus’ Stimme über mir. „Bekommen wir auch ne Umarmung?“
Er schaut mich ernst an und ich muss lächeln.
„Ich will mal nicht so sein!“ und nehme ihn in die Arme. „Schön, dass Ihr wieder da seid!“
Auch Nina umarmt mich herzlich. „Uns geht es nicht anders. Es ist zwar schön bei der Familie, aber zu Hause ist es doch am besten.“

Wir laufen zum Auto und ich spüre Marcus’ Blick auf mir ruhen.
„Was schaust Du mich denn so an?“ frage ich ihn.
„Hhhmm, ich weiß nicht, Du siehst… ich weiß nicht, wie ich’s beschreiben soll.“
„Sie sieht glücklich aus“, hilft Nina ihm aus.
„Ja, das ist es. Danke, Schatz! An wem das wohl liegt?!“
Ich lächele ihn an. „Bevor Du fragst – ich erzähl Euch alles, wenn wir zu Hause sind.“
Als wir vor dem Jeep Halt machen, stutzt er. „Das ist aber nicht unser Auto. Ich hoffe, das lebt noch!“
Ich stupse ihn leicht in die Seite. „Mac, Du weißt, dass ich ein guter Autofahrer bin. Christopher hat mir den Wagen geliehen, weil er der Meinung war, das wäre bequemer und praktischer wegen dem Gepäck. Euer Auto steht noch bei Christopher. Ich bringe es Euch heute Nachmittag noch vorbei.“

Als wir zu Hause angekommen sind und sich der erste Stress gelegt hat, schlage ich vor, einen Kaffee zu machen, damit sich der Jetlag bei den beiden nicht gleich sofort bemerkbar macht. Mathilda haben wir vorsichtshalber trotzdem schon ins Bett gebracht.
„Gute Idee!“ antwortet Nina und wir setzen uns an den Küchentisch.
Ich kann Marcus ansehen, dass ihm einige Fragen auf der Seele liegen.
„Na, nun frag schon, Mac. Du platzt ja gleich.“
Im Endeffekt muss ich ihm alles von vorne bis hinten bis ins kleinste Detail erzählen. Die Sache mit dem Haus lasse ich allerdings außen vor. Ich denke, das wird Christopher mit ihnen klären, wenn sie zum Notar gehen.
„Und Jacob ist jetzt wirklich wegen Dir für einige Zeit ins Ausland gegangen? Um Dich sozusagen zu vergessen?“
Ich nicke. „Naja, nicht nur wegen mir, aber ich denke, es hat alles zusammengepasst. Seine Gefühle für mich, Christopher’s Unfall und die Tatsache, dass ich mich jetzt um ihn kümmere und deshalb bei ihm wohne und der Plan von Christopher und Jacob zu expandieren. Ich glaube, so konnte er das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden. Ob es ihm wirklich etwas bringt – ich meine, dass er mich… sagen wir… abhakt –, wissen wir erst, wenn er wieder zurückkommt.“
Nina nimmt meine Hand. „Und das mit Christopher und Dir? Ich meine, das ist was festes?“
„Naja… also… ich denke… ja. Weißt Du, seit dem Stress mit Tom hatte ich nie wieder solche Gefühle für einen Mann. Ich habe das Gefühl, ich kann ihm blind vertrauen und er versteht mich. Klar, er hat keine Scheidung hinter sich, aber im Endeffekt ist er ja auch allein. Und…“
Ich stocke, weil ich zum ersten Mal zu jemand anderem über meine Gefühle spreche.
„Ich liebe ihn – ihn und Sarah.“
„Das scheint auf Gegenseitigkeit zu beruhen, wenn ich das so höre, was die Kleine zu Dir sagt.“ wirft Marcus ein. „Das heißt also, Du kommst jetzt nach Toronto?“
Ich nicke und schaue ihn erwartungsvoll an.
„Das ist toll, Nicky! Das ist so toll!“
Und auch Nina strahlt über’s ganze Gesicht. „Dann können wir ja demnächst für Dich auch auf Wohnungssuche gehen. Hach, ich liebe das!“
„Nun mal langsam mit den jungen Pferden, Nina! Bis Christopher wieder auf den Beinen ist, werde ich ja bei ihm wohnen und dann… warten wir es einfach ab, bis es soweit ist.“
Ich blicke zu Marcus, der gedankenverloren aus dem Fenster schaut.
„Mir geht da gerade was durch den Kopf, Nicky.“
Leicht irritiert ziehe ich meine Augenbraue nach oben. „Jaaaaaaaaa?“
„Lass mich das nochmal überdenken.“
Und damit nimmt er die Kaffeekanne, gießt uns ein und verschwindet dann im Wohnzimmer, wo er es sich auf der Couch bequem macht.
„Weißt Du, was er meint?“ frage ich Nina.
Sie schüttelt den Kopf. „Keine Ahnung. Ich hasse so was bei ihm: ‚Ich weiß was, aber ich sag’s Dir noch nicht’. Da könnte ich ihn killen.“
Wir beide lachen herzhaft.

Am frühen Abend verabschiede ich mich von den beiden, gebe Mathilda, die gerade wach geworden ist, einen Kuss auf die Stirn und fahre zurück zu Christopher.
„Mac, ist es okay, wenn wir das morgen mit Eurem Auto machen oder willst Du jetzt mitfahren?“
„Nee, nee, Nicky, ist schon okay. Wie ich gesehen habe, hast Du unseren Kühlschrank gut gefüllt, so dass wir morgen nicht los müssen. Komm einfach vorbei, wenn’s Dir passt. Und richte Christopher liebe Grüße und gute Besserung von uns aus.“
„Mach ich, er wird sich freuen!“ erwidere ich und fahre dann zurück zu Christopher.

„Na, habt Ihr mich vermisst?“ rufe ich, als ich die Haustür aufschließe.
Ich bekomme keine Antwort. Ich kann mir nicht helfen, aber in meiner Magengegend macht sich ein komisches Gefühl bemerkbar. Entspann Dich, Nicky, wird schon alles okay sein. Ich gehe ins Wohnzimmer, aber es ist dunkel. Ich gehe nach oben und schaue in Sarah’s Kinderzimmer, aber auch da ist niemand. Jetzt werde ich doch etwas nervös. Zum Schluss gehe ich zu Christopher ins Schlafzimmer… und bin gerührt. Er liegt auf dem Bett, ein Kinderbuch auf der Brust und Sarah im Arm. Beide schlafen friedlich und sehen glücklich aus. Eigentlich will ich sie nicht stören, aber es könnte heikel werden, wenn sich die Kleine dreht und aus Versehen auf Christopher’s Arm oder seiner Brust landet. Ich gehe in Sarah’s Zimmer, schlage die Bettdecke zurück, knipse die kleine Lampe an gehe dann zurück ins Schlafzimmer. Vorsichtig nehme ich sie auf den Arm, so dass sie kaum merkt, dass ich sie in ihr eigenes Bett bringe. Im Halbschlaf lehnt sie ihren Kopf an meine Brust. Ich ziehe ihr die Schuhe aus, decke sie zu und beobachte sie eine Weile, wie sie langsam wieder in einen tiefen Schlaf verfällt. Sie ist jetzt meine kleine Tochter, geht es mir durch den Kopf. Und das alles habe ich im Endeffekt Tom zu verdanken. Ich muss schmunzeln – wenn er wüsste, wie gut es mir gut zwei Jahre nach unserer Scheidung geht, er würde staunen. Das Mobile über Sarah’s Bett hat das Licht aufgenommen und als ich die kleine Nachttischlampe lösche, schimmert es beschützend über ihr.

Ich gehe zurück zu Christopher, um auch ihn in eine etwas bessere Schlafposition zu bringen. Die Extrakissen lege ich auf den Sessel neben dem Bett, ich ziehe vorsichtig die Decke unter seinen Beinen hervor, lege sie auf ihn und will gerade wieder gehen, als seine Hand meinen Arm festhält. Halb verschlafen flüstert er:
„Kannst Du nicht heute Nacht hier bei mir schlafen?“
Ich setze mich auf die Bettkante. „Schatz, ich will Dich nicht verletzen. Und wenn ich schlafe, kann ich das nicht kontrollieren.“
Jetzt erst öffnet Christopher die Augen. „Der Schmerz ist mir egal, wenn Du bei mir bist.“
Lächelnd willige ich schließlich ein. „Na schön, aber auf Deine Verantwortung.“
Ich gebe ihm einen Kuss auf die Wange und stehe auf. „Ich hol noch schnell meine Decke und ziehe mich um. Dann bin ich bei Dir.“

Nach einer Katzenwäsche öffne ich mit meinem Bettzeug die Schlafzimmertür. An dem ruhigen Heben und Senken seines Brustkorbs kann ich sehen, dass Christopher bereits wieder eingeschlafen ist. Auf Zehenspitzen laufe ich durch’s Zimmer und lege mich schließlich zu ihm. Ich rutsche an das äußerste Ende des Bettes, weil ich doch Angst habe, ihm während des Schlafs weh zu tun, aber kann einfach nicht einschlafen. Ich drehe mich zu ihm um und beobachte ihn, während er friedlich schlummert, als mir plötzlich auffällt, dass sein Shirt auf Brusthöhe kleine Flecken hat. Ich knipse die Nachttischlampe auf meiner Seite an, da ich durch das Mondlicht nicht sehr viel erkennen kann und meine Kinnlade geht nach unten: rote Flecken – Blut!

Mein ungutes Gefühl hatte mich nicht getäuscht, nur war ich nicht nervös, weil ich Christopher und Sarah nicht gleich gefunden habe, sondern weil ich instinktiv wusste, dass etwas nicht stimmt. Jetzt wusste ich warum. Ich setze mich auf und vorsichtig wecke ich ihn.
„Christopher, Christopher“, flüstere ich und berühre ihn leicht am Arm. „Christopher, bitte wach auf.“
Er bewegt sich kurz, murrt dann und öffnet die Augen. „Was ist denn los, Schatz? Stimmt was nicht?“
Als er meinen Blick sieht, ist er plötzlich hellwach. „Nicky, was…“
Ich falle ihm ins Wort. „Christopher, Dein Shirt. Da sind Blutflecken!“
Er schaut an sich herunter. Noch bevor er etwas sagen kann, schiebe ich sein Oberteil hoch und sehe, dass sein Verband sich langsam rot färbt.
„Wir müssen zum Arzt, Christopher, sofort! Was hast Du gemacht, während ich nicht da war?“
Meine Stimme überschlägt sich – ich habe Angst.
„Ich habe nichts weiter gemacht. Aber vielleicht… als ich mit Sarah im Bett lag… Sie hat sich einmal kurz auf meiner Brust aufgelehnt. Ich habe aber nur einen kurzen Schmerz gespürt, sonst nichts.“
Ich stehe bereits am Schrank, hole eine Jogginghose raus und ein frisches Shirt. Christopher setzt sich auf und sein Gesicht verzerrt sich – er hat Schmerzen. Ich ziehe ihm die Hose an, hole aus dem Bad eine Mullbinde, umwickele seine Brust notdürftig und ziehe ihm dann ein frisches Hemd an.
„Warte bitte hier. Ich wecke Sarah und ziehe sie schnell an.“
 

Sarah weiß nicht so recht, warum sie Mitten in der Nacht aufstehen muss, aber als ich ihr sage, dass es ihrem Daddy nicht gut geht und wir mit ihm ins Krankenhaus müssen, ist auch sie hellwach.
„Schatz, zieh Dich bitte schnell alleine an. Es reicht, wenn Du einfach die Sachen von gestern noch mal anziehst. Liegt alles im Bad. Dann wartest Du unten an der Haustür.“
In Windeseile steht sie unten bereit, während ich Christopher helfe. Mittlerweile kann ich ihm ansehen, dass er Schmerzen hat. Entweder, er hat sie vorhin gut vor mir verstecken können, oder er spürt sie wirklich erst jetzt. Er hat Mühe, ins Auto einzusteigen, denn das Setzen und somit das Stauchen des Körpers macht ihm sehr zu schaffen. Ich schnalle Sarah in ihren Kindersitz und rase los.

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